Sabine Reiner im Gespräch über Frauen- und Geschlechtspolitik in Zeiten der Krise

»So fährt Europa gegen die Wand«

»Rettungsschirme« und Sparmaßnahmen, Proteste und Generalstreiks – nichts hilft. Ein Ende der Eurokrise ist nicht in Sicht. Die Jungle World sprach mit Dr. Sabine Reiner über die gegenwärtige Problemlage, die Folgen für die Beschäftigten und dabei geltende geschlechtsspezifische Unterschiede sowie mögliche Auswege aus der Krise. Reiner arbeitet seit 2002 als Politikwissenschaftlerin und Volkswirtin in der Bundesverwaltung von Verdi im Bereich Wirtschaftspolitik.

Eine der großen Rating-Agenturen hat den Ausblick für die Bundesrepublik gesenkt, der deutsche Wirtschaftsminister fordert den Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone. Was würde das bedeuten?
Das kann momentan wahrscheinlich niemand abschätzen. Griechenland ist inzwischen in einer Situation, da denkt man, das kann gar nicht schlimmer werden. Häufig wird auf Argentinien verwiesen. Nachdem sich Argentinien vor zehn Jahren für zahlungsunfähig erklärt hatte, hat das Land ökonomisch schnell wieder Tritt fassen können. Aber Griechenland ist inzwischen ökonomisch sehr stark mit dem Rest Europas verwoben. Möglicherweise würde ein Austritt wirklich bedeuten, dass Griechenland für sehr lange Zeit auf ein schwächeres wirtschaftliches Niveau zurückgeworfen wäre. Das Problem ist, dass die Folgen eines Austritts wohl nicht auf Griechenland beschränkt blieben.
Auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Überschussländern, speziell in Deutschland, könnte es problematisch werden, wenn wir einen »Nord-Euro« oder die vielgelobte Deutsch­mark wieder hätten. Die Währung würde aufwerten wie eine Rakete. Die deutsche Wirtschaft profitiert momentan von der Schwäche der anderen, vom schwachen Euro und dem günstigen Zinsniveau. Diese Vorteile wären bei einem Zusammenbrechen von Euro-Land dahin. Daher sind auch die scheinbar starken Länder gut beraten, eine gemeinsame Lösung zu finden.
Führt denn ein Staatsbankrott automatisch zu einem Austritt aus der Euro-Zone?
Nein, das muss nicht so sein. Einen ersten »Haircut«, bei dem Gläubiger Verluste hinnehmen mussten, hatten wir ja schon. Aber bisher sind sämtliche Entlastungen ins Leere gelaufen, weil gleichzeitig die verheerende Politik weitergeführt wurde, die Länder in Südeuropa zwingt, ihre Wirtschaft kaputtzusparen. Natürlich kann man das auch anders machen: Man kann Schulden entwerten und gleichzeitig den Ländern die Möglichkeit geben, sich wirtschaftlich zu stabilisieren. Wenn man das nicht gleichzeitig macht, dann nützt alle Hilfe nicht.
Landläufig ist von »der Euro-Krise« die Rede. Gibt es tatsächlich eine gemeinsame Ursache für die aktuellen Probleme, etwa in Griechenland und in Spanien?
Zunächst möchte ich betonen, was nicht die Ursache ist, was aber speziell hierzulande von der Presse und auch von der Politik behauptet wird: dass die Ursache eine laxe Haushaltspolitik in den südeuropäischen Ländern gewesen sei. Das trifft nicht zu, hier ist es den Herrschenden wirklich gelungen, die Krisenursachen umzudefinieren.
Wir haben jetzt eine Staatsschuldenkrise als Ergebnis der Finanzmarktkrise. Natürlich gibt es Unterschiede in den Ländern, aber die Finanzmarktkrise ab 2009 war der Auslöser dafür, dass in sämtlichen Ländern – auch in Deutschland – die Schuldenquoten gestiegen sind. Die Ursachen der Finanzmarktkrise wiederum liegen im Wesentlichen in der Umverteilung in den einzelnen Ländern. Die hat dazu geführt, dass bei den Vermögenden viel Geld vorhanden ist, das wiederum Rendite suchend angelegt werden musste. Im Zusammenhang mit der Deregulierungstendenz der letzten 30 Jahre hat das zu der Instabilität auf den Finanzmärkten geführt. Dazu kommen in Europa noch die Geburtsfehler der Währungsunion, die dazu geführt haben, dass wir innerhalb Europas Ungleichgewichte in der Wettbewerbsfähigkeit haben. So ist Deutschland ein Exportüberschussland und entsprechend sind die meisten südeuropäischen Länder Defizitländer. Das ist die Ursache dafür, dass das Ganze so eskaliert ist.
Sie beschäftigen sich auch mit geschlechterspezifischen Auswirkungen der Krise. Was sind die Grundannahmen der feministischen Wirtschaftswissenschaft?
Ein wichtiger Gegenstand der Kritik war immer der berühmte Homo oeconomicus, der in der ökonomischen Theorie als geschlechtslos dargestellt wird. Der hat natürlich sehr wohl ein Geschlecht. Keine wirtschaftspolitischen Empfehlungen und Annahmen in der klassischen ökonomischen Theorie unterscheiden, ob Männer oder Frauen betroffen sind. Aber von unterschiedlichen Maßnahmen sind Männer und Frauen in der Regel unterschiedlich betroffen. Das sichtbar zu machen, ist immer ein wesentliches Anliegen der feministischen Ökonomie gewesen.
Der zweite Punkt ist, dass wichtige Beiträge zur Wertschöpfung in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht berücksichtigt werden: Bewertet wird nur, was über den Markt vermittelt wird. Nicht aber unbezahlte Arbeit, die häufig von Frauen geleistet wird. Auch wenn pflegende und versorgende Arbeit, die sogenannte Care-Ökonomie, bezahlt wird, sind die Löhne dort häufig niedriger, gerade auch in Deutschland. Die Erzieherin verdient viel weniger als ihr Kol­lege in einem technischen Beruf, dessen Ausbildung auch nicht länger war. Da gelten unterschiedliche Maßstäbe. Hier wird klar, dass Teile der ökonomischen Theorie wirklich geschlechtsblind sind.
Lässt sich beobachten, dass Frauen stärker von den Sparmaßnahmen und der wirtschaftlichen Unsicherheit betroffen sind als Männer?
Mit dem Krisenausbruch wurde hierzulande sehr deutlich, wie man mit Abwrackprämie und Kurzarbeitergeld die traditionell männlichen Industrien gestützt hat. Eine entsprechende Unterstützung gab es jetzt etwa für die »Schlecker-Frauen« nicht. Zugespitzt kann man schon sagen, dass bei den Verursachern der Krise, vor allem in der Welt der Finanzmärkte, Männer überrepräsentiert sind und, wenn Männerarbeitsplätze betroffen sind, schnell geholfen wird. Umgekehrt ist es bei den längerfristigen Auswirkungen. Dort, wo Staats- und Sozialausgaben gekürzt und reduziert werden, etwa bei öffentlichen Angeboten zur Kinderbetreuung, sind Frauen stärker betroffen und sie müssen überlegen, wie sie jetzt den Alltag meistern.
Welche Perspektiven bieten sich für linke Politik?
Ich habe den Eindruck, dass die Frage der Gerechtigkeit wieder stärker diskutiert wird. Intuitiv spüren viele, dass diejenigen, die jetzt bluten, nicht die Verursacher der Krise sind. Anleger verdienen daran, wenn sie Anleihen der Krisenländer kaufen. Wer kassiert denn die Zinsen, die da steigen? Es gibt auch wieder mehr Bewegung bei der Forderung, die Vermögenden zur Kasse zu bitten. Wir haben uns seit der Gründung von Verdi schon immer für eine Vermögenssteuer eingesetzt. Nun beteiligen wir uns am Bündnis »UmFAIRteilen«, das am 29. September einen Aktionstag durchführt. Und es gibt weitere Akti­vitäten, an denen sich die Gewerkschaften beteiligen.
Ein weiteres Thema ist, dass die gesamte Finanzindustrie stärker reguliert werden muss. Als Gewerkschaften sind wir dabei, bei diesen beiden Themen Druck aufzubauen, auch mit Blick auf die Bundestagswahl im nächsten Jahr. Außerdem versuchen wir, solidarisch mit Gewerkschaften aus anderen Ländern etwas auf die Beine zu stellen. Ziel ist es, klarzumachen: Wir können uns nur gemeinsam zur Wehr setzen. Im November gibt es bei Verdi eine gemeinsame Aktionswoche mit Gewerkschaften aus Österreich und der Schweiz, andere wollen sich ebenso beteiligen.
Bisher verhallen die Forderungen der Gewerkschaften nach einer veränderten Krisenpolitik ungehört. Den Fiskalpakt lehnen Verdi und DGB ab. Welche Möglichkeiten bleiben den Gewerkschaften unabhängig von der parlamentarischen Politik?
Wir sind ja nicht alleine. In der Erklärung der 17 Ökonominnen und Ökonomen (Erklärung des Institute for New Economic Thinking, Anm. A. F.) sind beispielsweise einige Forderungen enthalten, für die wir auch schon länger eintreten. Sie sagen, der Fiskalpakt engt zu sehr ein, man braucht mehr Spielraum. Sie sagen auch, es gibt eine gemeinsame europäische Verantwortung für die aktuelle ­Situation, sprich die Krisenländer sind nicht allein für ihre Lage verantwortlich. Es gibt immer mehr Stimmen, die in dieser Weise argumentieren, deswegen können wir uns durchaus bestätigt sehen. Wir nutzen unsere Möglichkeiten, Aufklärung zu leisten und die Menschen zu motivieren, ihre Meinung zu äußern und gemeinsam mit uns Druck auszuüben auf die Politik. Da müssen wir noch zulegen, das ist richtig. Denn so wie bisher, das ist klar, fährt Europa gegen die Wand und das wollen wir nicht.
Wenn beim DGB in Sachen »Kurswechsel in Europa« von »Millionen neuer, sinnvoller und innovativer Arbeitsplätze« die Rede ist, klingt das ein bisschen nach Kohls blühenden Landschaften.
Gemeint sind Investitionen in sinnvolle und gesellschaftlich notwendige Felder. Es ist ja nicht so, dass in Südeuropa und hier sämtliche Bedürfnisse befriedigt sind und es keine Wachstumsfelder mehr gäbe. Die Gewerkschaften wollen nicht Wachstum um jeden Preis. Aber man kann ganz klar Bereiche benennen, wo Wachstum notwendig und sinnvoll ist, beispielsweise im Gesundheitsbereich, bei Kinderbetreuung und Bildung, bei Kultur und Freizeit und ökologischem Umbau. Menschen müssen ihre Lebensvorstellungen auch verwirklichen können. In den siebziger, acht­ziger Jahren hatten wir in einem viel stärkeren Maß Debatten um Arbeitszeitverkürzung und mehr Muße. Aber dafür sind Menschen erst ansprechbar, wenn sie ihre Grundbedürfnisse befriedigen können und eine Perspektive haben. Wer in Unsicherheit lebt und nur pre­käre Einkommen hat, mit dem kann man schlecht über Konsumverzicht oder Wachstumsverzicht debattieren.