Jihad und Machtkampf im geteilten Mali

Sharia unerwünscht

Seit Monaten kontrollieren in Mali rivalisierende Islamistengruppen den Norden des Landes. Die Jihadisten haben keinen Rückhalt in der Bevölkerung.

Keine bösen Worte unter Freunden, dachte sich möglicherweise François Hollande in der vorletzten Augustwoche und schluckte den seit längerem auch unter französischen Geostrategen, Nachrichtendienstlern und Militärs verbreiteten Ärger über die Geldgeber jener radikalen Islamisten, die seit April einen Teil der Sahel-Zone kontrollieren, vorläufig herunter.
Am 22. August empfing der französische Präsident das Staatsoberhaupt der Golfmonarchie Katar, den Emir Ben Khalifa al-Thani. Zu sagen hätten sich die beiden Staatschefs eigentlich einiges gehabt. Nicht nur, dass der Golfstaat in Frankreich ziemlich viele prestigeträchtige Einrichtungen aufgekauft hat – von Luxushotels an der Côte d’Azur bis zum Pariser Fußballclub PSG. Der reiche Kleinstaat spielt auch über den arabischsprachigen Raum hinaus eine wichtige Rolle als Finanzier diverser mal mehr, mal weniger dubioser Bewegungen.
Als Franzosen und Briten ab März 2011 in Libyen militärisch sowie mit Geheimdienst- und Finanzhilfe die dortigen Rebellen unterstützten, floss auch aus Katar reichlich Geld an ebendiese Rebellen. Im Syrien-Konflikt, wo François Hollande und sein Außenminister Laurent Fabius sich zumindest verbal an die Spitze der internationalen Kritik am Regime von Bashar al-Assad zu stellen versuchen, mischt die Staatsführung in Katar ebenfalls eifrig mit. Ein Teil der syrischen bewaffneten Opposition, insbesondere sunnitisch-islamistische Gruppen, die eher am Rande der Rebellenbewegung stehen, erhält finanzielle Unterstützung aus Katar.

Nicht, dass die Monarchen des kleinen Golfstaats ihre Liebe für die Befreiungsbewegungen entdeckt hätten. Eher trifft das Gegenteil zu: Wie andere reaktionären Monarchien, etwa Saudi-Arabien, versucht auch Katar, den antidiktatorischen arabischen Bewegungen die demokratische Spitze zu nehmen, und die Rebellion in Syrien nicht mehr als Aufstand gegen die Diktatur, sondern eher als Konfrontation zwischen Sunniten und Alewiten erscheinen zu lassen. Erfolgreiche Aufstände für demokratische Rechte wären aus Sicht der Machthaber am Golf eher gefährliche Beispiele für die Region.
Die radikalen Islamistengruppen, die seit April die gesamte Nordhälfte von Mali und damit einen nicht unbeträchtlichen Teil der Sahel-Zone militärisch kontrollieren, haben mit einer Demokratiebewegung nichts zu tun. Lang ist die Liste der Vorwürfe aus der malischen Bevölkerung an die untereinander rivalisierenden Jihadistengruppen, die sich den Norden des Landes aufgeteilt haben. So werden etwa neun- bis 17jährige Kinder und Jugendliche als Soldaten rekrutiert, wie die Malische Koalition für die Kinderrechte (Comad) – eine Koalition aus 78 NGOs und Vereinigungen – Anfang August in Bamako bekanntgab.
Übergriffe auf Zivilisten und Misshandlungen, die mit einer besonders harten Auslegung der Sharia gerechtfertigt werden, gibt es ebenfalls, sie lösen in der Bevölkerung eher Befremden aus. Mali ist seit dem 17. Jahrhundert ein mehrheitlich islamisches Land und wird heute zu 90 Prozent von Muslimen bewohnt, doch die dortige Auslegung des Islam unterscheidet sich erheblich von den rigiden Konzepten, wie sie in Saudi-Arabien oder anderen arabischen Ländern vorherrschen. Körperstrafen im Namen der Religion wurden in Mali bislang nicht verhängt.
Das ändert sich gerade. Am 29. Juli wurde in Aguelhok ein unverheiratetes Paar durch Steinigung getötet. Die radikalen Islamisten der Gruppe Ansar Dine (Partisanen der Religion), die im Nordosten Malis den Raum um Kidal kontrolliert, bekannten sich zur Tat. Die aus Algerien herübergekommenen internationalen Jihadisten von der Gruppe »Al-Qaida im Land des islamischen Maghreb« (AQMI) kontrollieren den Nordwesten, die Stadt Timbuktu und ihr Umland. Die »Bewegung für Glaubenseinheit und Jihad in Westafrika« (MUJAO), eine Abspaltung von AQMI, beherrscht die Gegend um Gao, die wichtigste Stadt in Nordmali. Zwischen diesen Gruppen herrscht tiefes Misstrauen. Am offensivsten rückt derzeit die MUJAO vor, deren Truppen am vergangenen Samstag in die Stadt Douentza einmarschiert sind, die an einer strategisch wichtigen Route in der Pufferzone zwischen Nord- und Südmali liegt. Am Sonntag meldete die Gruppe, man habe am Vortag einen algerischen Diplomaten »hingerichtet«. Der Mann war im April gemeinsam mit sieben weiteren algerischen Diplomaten in Gao als Geisel genommen worden, drei von ihnen waren im Juli freigelassen worden. Von Algerien forderte die MUJAO die Freilassung von festgenommenen Jihadisten, unter ihnen ein Führungsmitglied der rivalisierenden Gruppe AQMI. Die algerische Regierung ging auf die Forderung nicht ein.
Die Bevölkerung billigt die Vorgehensweise der Islamistengruppen kaum. In der Großstadt Gao musste die MUJAO darauf verzichten, öffentlichkeitswirksam ihre Version der Sharia zur Anwendung zu bringen: Anfang August wollten die radikalen Islamisten auf dem Platz der Unabhängigkeit im Zentrum von Gao einem Dieb öffentlich die Hand abschneiden. Doch am frühen Morgen besetzten bereits Hunderte von Jugendlichen den Platz und die Zufahrtswege, sie ließen die Jihadisten nicht durch.
Seit die Strukturen des malischen Zentralstaats unter dem Ansturm der unterschiedlichen, kurzzeitig untereinander verbündeten Rebellengruppen Anfang des Jahres im Norden zusammengebrochen sind, herrscht im Süden die Ansicht vor, das Gebiet müsse zurückerobert werden. Vor diesem Hintergrund hatte ein Teil der Armee, der aus jüngeren und von Korruptionsvorwürfen relativ unbelasteten Offizieren bestand, am 22. März gegen die amtierende Regierung unter Präsident Ahmadi Toumani Touré in Bamako geputscht. Doch unter dem Druck der Nachbarstaaten, der früheren Kolonialmacht Frankreich und anderer internationaler Organisationen wurde die Macht nach wenigen Wochen offiziell an einen zivilen Übergangspräsidenten, Dioucounda Traoré, übergeben. Eine nationalistische Bewegung opponiert gegen ihn und stellt ihn als Erfüllungsgehilfen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) sowie Frankreichs dar.

Traoré war im Mai während der Proteste vor dem Präsidentenpalast von jugendlichen Demonstranten verletzt worden. Er verbrachte mehrere Wochen in Rekonvaleszenz in Paris, auch um die politische Entwicklung abzuwarten. Ende Juli ist er nach Bamako zurückgekehrt. Er entzog zunächst dem von ihm eingesetzten Premierminister Cheikh Modibo Diarra einige Machtbefugnisse, bestätigte ihn dann jedoch Mitte August im Amt.
Unterdessen ist der Druck der Ecowas gewachsen, die von den malischen Übergangsbehörden die Bildung einer »nationalen Einheitsregierung« fordert, um selbst eine militärische Intervention im Norden Malis vorzubereiten. In naher Zukunft ist die Entsendung von 3 300 Soldaten geplant. Dabei beansprucht die Ecowas das Kommando, was in der Gesellschaft und bei Teilen der politischen Führung in Mali auf heftige Ablehnung stößt. Dort fordert man die eigene Kontrolle über ein militärisches Eingreifen im Norden. Einige Nachbarländer wie Burkina Faso – dessen Präsident Blaise Compaoré zu den treuesten Verbündeten Frankreichs in der Region zählt – wird vorgeworfen, Mali schwächen zu wollen.
Tatsächlich hatte es in der Vergangenheit politische Konflikte zwischen Mali und Frankreich gegeben. Mali hatte unter Touré seit 2008 fünf Mal die Aufforderungen der damaligen französischen Regierung ausgeschlagen, an der Migrationskontrolle mitzuwirken und ein Abkommen mit Frankreich – vor allem zur Rücknahme unerwünschter Migranten – zu unterzeichnen. Auch wenn die politische Führung in Mali ziemlich korrupt ist, so ist die demokratische Kultur dort lebendiger als in fast allen Nachbarländern. Zahlreiche NGOs haben sich dort gegründet, seit die Bevölkerung 1991 die langjährige Militärregierung unter Moussa Traoré aus eigener Kraft stürzte. Deswegen ist Mali oft kein unterwürfiger Partner der früheren Kolonialmacht, vor allem, wenn es um die Migrationspolitik geht.

Ein Anzeichen dafür, dass die Nachbarstaaten oder die Ecowas Malis Bemühungen um eine eigenständige Rückeroberung des Nordens verhindern wollen, war die Blockade der Waffenlieferung , die von der malischen Regierung offiziell bestellt worden war. Die Lieferung wurde im Senegal und in Guinea aufgehalten, da eine Entscheidung der Ecowas über ein militärisches Eingreifen bevorstehe, wie es hieß.
Nachdem das ursprünglich bis zum 31. Juli geltende Ultimatum der Ecowas an Mali für die Bildung einer »Regierung der nationalen Einheit« um einige Wochen verlängert worden war, wurde am 21. August die Konstituierung einer »Konsensregierung« mit erweiterter politischer Basis in Bamako bekanntgegeben.
Die wichtigste Neuerung dabei ist jedoch, dass die oberste Vertretung religiöser muslimischer Gruppen, der Hohe Islamrat (HCI), an der Regierungsbildung beteiligt wurde. Ihm wurde die Einrichtung eines Religionsministeriums zugestanden. Hochrangige Vertreter des HCI haben Vermittlerfunktionen übernommen und verhandeln im Norden des Landes mit Repräsentanten von Ansar Dine sowie des MUJOA. Auf die Entscheidung über militärische Eingriffe im Norden des Landes könnte die Regierungsbeteiligung des HCI jedoch langfristig weniger Einfluss haben als auf die Innenpolitik. Bereits 2011 hatte eine Massenmobilisierung unter Einfluss des HCI für die Änderung eines progressiven Familiengesetzes gesorgt, das ursprünglich die Rechtsstellung der Frauen hatte verbessern sollen. Bei den derzeitigen Bemühungen der neuen Regierung, Rückhalt in der Bevölkerung zu finden, spielt der HCI jedoch eine wichtige Rolle: Bei der Organisation einer Kundgebung »für Frieden in Mali« in einem Stadion von Bamako, zu der Mitte August mehr als 50 000 Menschen kamen, konnte die Gruppe die meisten Demonstranten mobilisieren.