Panagiotis Sotiris im Gespräch über die Veränderungen in der griechischen Gesellschaft und die Notwendigkeit des greek exit

»Der EU geht es nicht um die Schulden«

Mit dem neuen Sparpaket sollen in Griechenland in den nächsten zwei Jahren 11,5 Milliarden Euro eingespart werden. Die Folgen für die griechische Gesellschaft werden verheerend sein. Der Soziologe Panagiotis Sotiris von Antarsya (»Koalition der antikapitalistischen Linke für den Umsturz«) über die Notwendigkeit, die Euro-Zone zu verlassen.

Welche Folgen werden diese neuen Sparmaßnahmen für die griechische Gesellschaft haben?
Das neue Paket besteht aus radikalen Kürzungen, insbesondere der Renten und Löhne im öffent­lichen Sektor. Die Kürzungen der Renten treffen nicht nur die älteren Leute selbst, sondern mindern auch ihre Möglichkeit, die jüngeren Generationen zu unterstützen. Diese intergenerationelle Solidarität ist für Griechenland sehr wichtig und der Grund, warum das Land bisher noch keine extremen Formen der sozialen Exklusion erlebt hat. Dann wird im Bildungs- und Gesundheitssystem gekürzt, die schon jetzt am Rande des Kollapses sind. Man kann es nicht anders sagen, wir haben die Grenze erreicht. Jetzt fängt man an, zu sehen, wie Krankenhäuser wirklich geschlossen werden, dasselbe wird bald mit Universitäten passieren.
Es geht aber nicht nur um das Sparen. Vorgesehen sind auch strukturelle Änderungen auf dem Arbeitsmarkt.
Die Troika hat von Anfang an nicht nur Fiskalmaßnahmen gefordert, damit Griechenland seine Schulden bezahlt. Ihr Ziel war und ist es, die soziale Landschaft in Griechenland zu verändern. Der Begriff »Austerität« kann nicht das Ausmaß der Veränderungen beschreiben, die der griechischen Gesellschaft aufgezwungen worden sind. Es handelt sich um ein Experiment des neoliberalen social engineering. Der Mindestlohn ist bereits um 22 Prozent gekürzt worden und zusätzliche Kürzungen werden gefordert. Am Ende werden wir Mindestlöhne von 300 bis 400 Euro sehen und Löhne für Qualifizierte, die unter 800 bis 900 Euro liegen. Auch ist die Einführung der Sechs- oder Sieben-Tage-Arbeitswoche vorgesehen. Das bedeutet die komplette Flexibilisierung der Arbeitszeiten und die Begrenzung der Ruhezeit zwischen Arbeitsschichten auf elf Stunden. Geplant ist auch die Abschaffung des Arbeitsinspektorats, also des letzten Hindernisses für einen Despotismus am Arbeitsplatz. Es ist die Vision eines komplett deregulierten und billigen Arbeitsmarktes.
Sie haben kürzlich in einem Text den Begriff des »downsizing« verwendet, um die langfristigen politischen und sozialen Transformationen zu beschreiben, die Griechenland derzeit erlebt.
Was gerade in Griechenland passiert, ist nicht nur austerity im neoliberalen Sinne. Es geht nicht nur darum, den Arbeitsmarkt billiger, die Wirtschaft unternehmerfreundlicher zu machen oder mehr zu privatisieren. Griechenland wird am Ende dieses Prozesses ein anderes Land sein. Aber auch Europa wird sich verändern, es wird eine neue Arbeitsteilung in Europa geben zwischen Zentrum und Peripherie. Griechenland wird zu einem Billiglohnland gemacht und immer mehr mit anderen Ländern des Südostens Europas konkurrieren. Ich gebe nur ein Beispiel: Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes wird derzeit die Hochschulbildung demontiert. Die Hochschulbildung vor der Krise war in einem guten Zustand, es gab mehr Institute, mehr Positionen für Studenten und für akademisches und wissenschaftliches Personal. Ab jetzt wird das alles nach und nach abgebaut. Das wird zu Verhältnissen führen, die ich als eine »Gesellschaft der reduzierten Erwartungen« beschreibe, eine Gesellschaft, in der es primär darum geht, zu überleben. Das downsizing ist tiefgreifender als eine Schocktherapie.
Den EU-Institutionen geht es nicht um Griechenlands Schulden, also darum, Griechenland wieder in die Lage zu bringen, seine Schulden zu bezahlen, sondern um die Durchsetzung der europäischen economic governance. Es geht dabei um ein strategisches Konzept, das man europäisches nation building nennen könnte. Der Diskurs, der diesen Prozess begleitet, ist nicht nur arrogant, sondern in gewissem Sinne neokolonial: Die Länder aus dem europäischen Norden, insbesondere Deutschland, sehen sich in der Pflicht, den Ländern aus dem Süden zu zeigen oder zu diktieren, wie sie ihre Wirtschaft sanieren sollen, »diese Leute« vor sich selbst zu schützen.
Sehen Sie eine Möglichkeit, diese Entwicklung zu ändern und Griechenland in der Euro-Zone zu behalten?
Ich finde, es ist höchste Zeit, Klartext zu reden: Der Euro als Einheitswährung in einer Wirtschaftsregion, die von tiefen Unterschieden in Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit gekennzeichnet ist, ist strukturell nicht haltbar. Ich rede nicht nur von der Währungspolitik, sondern auch von einem Aspekt der Euro-Zone, über den in der europäischen Linken nicht genügend diskutiert wird, nämlich den Verlust von Souveränität. Das bedeutet nicht Nationalismus, sondern demokratische Kontrolle über die Wirtschaftspolitik. Die EU-Bürokratie kann immer mehr eine Politik diktieren, welche die Arbeit der Menschen betrifft.
Der greek exit, den ich und meine Partei unterstützen, ist nicht nur eine ideologische Frage, sondern eine Frage von Taktik. Die Entscheidung, die Euro-Zone zu verlassen, sollte nicht von der EU kommen, als vorläufige Strafmaßnahme, sondern eine souveräne Entscheidung sein, die von einer breiten Bewegung getragen wird und sich entlang einer Serie von radikalen Forderungen artikuliere.
Denn am Ende ist die Frage doch ganz einfach: Was ist die Alternative? Was kann schlimmer sein als ein fünftes, sechstes, siebtes Jahr Rezession infolge und eine Arbeitslosigkeit, die in den nächsten Monaten 30 Prozent erreichen wird?
Welche Linke meinen Sie? Die parlamentarische Opposition betont immer wieder, die Drachme sei keine Option für Griechenland.
Wir haben in Griechenland einen großen Widerspruch: Wir haben eine sehr starke linke Partei, Syriza, die die Hoffnungen und Erwartungen vieler Leute repräsentiert. Die Parteiführung hält jedoch stur am Euro fest und wiederholt mantraartig: »Wir sind proeuropäisch, wir werden den Euro retten.« Syriza vertrat ursprünglich die Forderung, der Politik der Memoranda ein Ende zu setzen, jetzt reden sie von Neuverhandlungen.
Ich sehe keinen Weg aus der austerity und aus der Schuldenkrise ohne die Restrukturierung der produktiven Kapazitäten der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft. Das ist in meinen Augen nicht ohne einen Bruch mit dem Euro machbar. Es hat nichts mit Ideologie zu tun. Es geht mir um den Widerstand gegen das aggressive neoliberale Gefüge der EU.
Sie plädieren für einen Austritt aus der Euro-Zone und eine Restrukturierung der griechischen Wirtschaft gemäß einer sozialistischen Programmatik. Aber welche Überlebenschancen kann Griechenland denn in einer solchen isolierten Position in Europa haben?
Es wäre natürlich besser, wenn wir uns auf eine europäische Bewegung verlassen könnten, die eine radikal neue Politik durchsetzen könnte. Aber die beste Form von Internationalismus ist heute der Bruch mit der Euro-Zone in souveräner, demokratischer Form. Das wird in Europa ein politisches Erdbeben verursachen, aber das könnte gleichzeitig die stärkste Botschaft sein, die Griechenland an die europäische Arbeiterbewegung senden könnte. Ich rede nicht darüber, Griechenland mit der Drachme wettbewerbsfähiger gegenüber den anderen Schuldenländern zu machen. Es geht nur darum, eine Gesellschaft vor der Gewalt des Kapitals zu schützen.
Nach den Wahlen sind die Massenmobilisierungen schwächer geworden. Wurde der Protest an die parlamentarische Opposition delegiert?
In einem gewissen Sinn ist das richtig. Aber soziale Proteste sind nicht voraussehbar. Wir werden in den nächsten Monaten weitere Mobilisierungen haben. Dass die Situation ruhiger geworden ist, liegt auch an den Problemen in der griechischen Linken. Das sage ich auch selbstkritisch, Antarsya ist ein Teil des Problems. Das hat auch mit einer politischen Dynamik zu tun, die ich als postdemokratisch bezeichnen würde. In den vergangenen zwei Jahren hatten wir Regierungen, die eine Politik umgesetzt haben, wohl wissend, dass sie bei den nächsten Wahlen verlieren werden. Gleichzeitig haben wir nie dagewesene Massenproteste, im Juni 2011 waren insgesamt mehr als 2,5 Millionen daran beteiligt. Welche Regierung kann einen solchen Druck aushalten? Die Maßnahmen sind trotzdem verabschiedet worden. Die sozialen Mobilisierungen haben keinen Einfluss auf die Politik der Regierung gehabt. Mit dem politischen Erfolg von Syriza gab es durchaus einen politischen Wechsel. Der war wichtig, aber lediglich als Voraussetzung für soziale Veränderungen. Und das ist ein Problem. Syriza wartet jetzt auf die politische Macht. Ohne eine starke Bewegung, ohne Formen von Organisation von unten kann es gleichwohl keine sozialen Veränderungen geben. Die Strategie der parlamentarischen Linken kann nicht nur die sein, auf den Wahlsieg zu warten.
Wie reagiert die griechische Linke auf die Versuche der Neofaschisten, die Wut und Verzweiflung der Bevölkerung zu artikulieren?
Das ist eine der größten Herausforderungen. Die Neofaschisten von Chrysi Avgi kann man nicht mit anderen rechtsextremen Gruppierungen in Europa wie dem Front National vergleichen, nur vielleicht mit den ungarischen Faschisten. Sie sind in kriminellen Banden organisiert, sie sind Killer. Sie sind ein Zeichen der sozialen und politischen Krise in Griechenland, aber sie sind nicht erst durch die Krise entstanden. Man darf nicht vergessen, dass Griechenland bis 1974 keine Demokratie hatte. Antikommunismus, Nationalismus, Rassismus und Sexismus haben tiefe Wurzeln in dieser Gesellschaft. Sie sind vom politischen Establishment unterstützt worden, das bewusst eine rassistische Rhetorik bemüht hat, um die Verhältnisse nach rechts zu bewegen.
Die Linke muss einerseits die Politik der Neofaschisten dekonstruieren. Die Leute müssen verstehen, dass Chrysi Avgi keine antisystemische Partei ist. Das ist ein Mythos. Aber die Gefahr ist auch konkret. Diese Leute müssen bekämpft werden, ihnen darf kein Raum gelassen werden. Die Linke darf es nicht zulassen, dass die Neofaschisten Antworten auf die Bedürfnisse der Menschen artikulieren. Wir müssen die Nachbarschaften zurückerobern, Strukturen der Selbsthilfe und der materiellen Unterstützung schaffen, die auf der Solidarität und nicht auf Hass und Exklusion basieren.