Die Neuregelung des Betreuungsrechts bei medizinischer Zwangsbehandlung

Wider den eigenen Willen

Die geplante Novellierung des Betreuungsrechts sollte Rechtssicherheit im Umgang mit medizinischen Zwangsmaßnahmen bei Patienten bringen. Doch die Betroffenen wurden nicht gefragt.

Mit Sicherheit gibt es im politischen Alltag des Bundestags alltägliche und weniger alltägliche Gesetzesinitiativen, über die verhandelt wird. In der Regel ist die Beratungszeit kurz und die Regierungsmehrheit bereits sicher, wenn es im Bundestag zur Abstimmung kommt. Anders sieht das bei Gesetzen aus, die an Grundwerte oder Grundrechte rühren. Der Bundestag bemüht sich in solchen Fällen oft um mehr Zeit für Diskussionen, die Parlamentarier präsentieren sich nachdenklich und manchmal wird sogar der Fraktionszwang aufgehoben. Bei der gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, der Präimplantationsdiagnostik (PID) oder der Gentechnik – alles Bereiche der menschlichen Existenz, die schwer in Gesetze zu fassen sind – wurde umfangreich beraten, Betroffene beziehungsweise deren Verbände und Fachleute wurden angehört. Die medizinische Zwangsbehandlung von psychisch Kranken, Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung und dementen Patienten sollte ebenfalls für Diskussionsbedarf im Bundestag sorgen. Dennoch ist dem Bundeskabinett bei der Novellierung des Betreuungsrechts ein Fauxpas unterlaufen.

»Die Neuregelung sollte quasi im Omnibus-Verfahren zusammen mit weiteren Gesetzesänderungen schnell durchgewunken werden«, sagt Jeanne Nicklas-Faust, Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Die Betroffenen und deren Interessenvertreter reagierten angesichts dieser Vorgehensweise mit Empörung. Dabei geht es den meisten Verbänden nicht um eine strikte Ablehnung der Neuregelung der Zwangsbehandlung, sondern um die Geschwindigkeit des Gesetzgebungsverfahrens. Die Vorlage legt zwar strenge Maßstäbe für eine Zwangsbehandlung zugrunde. »Die geplante Gesetzesänderung greift aber in elementare Grundrechte ein. Und damit dies gut abgesichert ist, braucht man mehr Zeit für Beratungen und sollte die Betroffenen in den Entscheidungsprozess miteinbeziehen«, sagt Nicklas-Faust.
Wolfgang Nešković, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, unterstützte die Forderung umgehend: »Der Deutsche Bundestag erweist sich regelmäßig als bloße ›Abnickmaschine‹. Selbst Gesetzentwürfe, die schwerste Grundrechtseingriffe enthalten, werden vom Parlament einfach abgenickt, ohne dass die Abgeordneten sich die Gelegenheit einräumen, sich mit der entsprechenden Materie angemessen sorgfältig auseinanderzusetzen.« Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE) äußerte deutlichere Kritik. »Es geht bei dem Gesetzesvorhaben um ein Sondergesetz für eine spezielle Menschengruppe. Das lehnen wir kategorisch ab«, sagt Matthias Seibt vom Bundesvorstand des BPE.

Bis zum Juni dieses Jahres gab es bei der medizinischen Zwangsbehandlung eine Art ungeschriebene Übereinkunft unter Ärzten, Fachkräften und mitunter auch bei den Betreuern und Angehörigen. »Bis dato war im Betreuungsrecht nur geregelt, dass eine Zwangsunterbringung unter bestimmten Voraussetzungen angeordnet werden konnte. Es stand aber im Gesetzestext nichts zu einer dann unter Umständen durchzuführenden medizinischen Zwangsbehandlung«, sagt Leonore Julius, Geschäftsführerin des Bundesverbands der Angehörigen psychisch Kranker (BApK). Die medizinische Zwangsbehandlung wurde durchgeführt, wenn der Patient aufgrund seiner Krankheit nicht mehr in der Lage war, Entscheidungen selbst zu treffen, wenn eine Fremd- oder Eigengefährdung zu befürchten oder schlimmstenfalls das Leben des Patienten akut bedroht war.
Nun kann man nicht behaupten, dass hinter verschlossenen Türen über Jahre Menschen systematisch gequält wurden. Eine rechtliche Grund­lage für die Anwendung der Zwangsbehandlung gab es jedoch nicht. Das bemängelte auch der Bundesgerichtshof (BGH) in seinen Urteilen vom 20. Juni. Der BGH untersagte in zwei Verfahren die geforderte medizinische Zwangsbehandlung. In beiden Fällen hatten die Betreuerinnen die Genehmigung einer Zwangsbehandlung »der wegen einer psychischen Erkrankung unter Betreuung stehenden, einwilligungsunfähigen und geschlossen untergebrachten Betroffenen« gefordert. Der BGH lehnte dieses Ansinnen in seinen Urteilen ab, da »es gegenwärtig an einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden gesetzlichen Grundlage für eine betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung« fehle. Die Richter rügten, dass das Betreuungsrecht diesen Punkt außer Acht lasse. Seitdem besteht eine Rechtsunsicherheit bei der medizinischen Zwangsbehandlung. Ärzte und andere Fachleute sind verunsichert, ob und wie sie Menschen behandeln sollen, die sich dagegen wehren, allerdings nicht mehr als einwilligungsfähig gelten. Das betrifft nicht nur die Gruppe der psychisch Kranken, sondern ebenso Demenzkranke und Menschen mit »geistiger Behinderung«.

Der BPE begrüßte die Urteile des BGH und rief in der Folge Betroffene dazu auf, im Falle einer Zwangsbehandlung sofort Strafanzeige zu stellen. »Wenn Ärzte trotzdem zwangsbehandeln (…), dann ist das Körperverletzung«, teilte der BPE in einer Presseerklärung mit. Der Verband wehrt sich vehement gegen ein Gesetz, das die Zwangsbehandlung rechtlich regeln soll. »Hier soll ein Sondergesetz für die als psychisch Kranken Deklarierten geschaffen werden. Dabei gibt es den Paragraph 34 StGB. Dieser regelt und erlaubt den ›rechtfertigenden Notstand‹. Das heißt, ein Arzt kann im Notfall behandeln, insofern gibt es keine Rechtsunsicherheit. Der Paragraph 34 gilt für alle Menschen gleichermaßen und unterteilt nicht in Mensch und psychisch krank. Im Falle des Paragraphen 34 ist der Arzt im Risiko – er muss unter Umständen sein Handeln rechtfertigen, in der geplanten Neuerung im Betreuungsrecht ist der Patient im Risiko«, sagt Seibt.
Verbände wie die Lebenshilfe, der Paritätische Wohlfahrtsverband oder der BApK sehen das anders. »Es geht um Fälle, in denen das Leben des Betroffenen bedroht ist oder die Gefahr einer Fremdgefährdung besteht. Mitunter sind auch Kinder die Leidtragenden einer solchen Extremsituation. Die Zwangsbehandlung muss dabei aber immer am Ende einer Kette von Maßnahmen stehen«, sagt Julius. Die Novellierung des Betreuungsrechts soll solche Fälle umfassen und klare Kriterien für die Anwendung einer Zwangsbehandlung festlegen.
Die Empörung der Verbände und Betroffenen ist nicht ungehört geblieben. Der Gesetzentwurf wurde zunächst zurückgezogen. Der Bundesbeauftragte für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe (CDU), teilte in einer Erklärung mit: »Auch wenn hinsichtlich einer Neuregelung Eile geboten scheint, so darf doch das grundlegende Motto der UN-Behindertenrechtskonvention, ›Nichts über uns ohne uns‹, nicht außer Acht gelassen werden.« Nicklas-Faust von der Lebenshilfe erwartet, dass ihr Verband bald angehört werden wird. Durch Druck von außen ist der Bundestag beziehungsweise die schwarz-gelbe Regierungskoa­lition nun doch zum bewährten Procedere zurückgekehrt, bei dem Betroffene, deren Vertreter und gegebenenfalls auch Fachleute angehört werden.
In Zeiten des Falls von Gustl Mollath, der seit fast sieben Jahren möglicherweise zu Unrecht in geschlossenen Einrichtungen in Bayern untergebracht ist, tut der Bundestag gut daran. 2006 urteilte das Nürnberger Landgericht, Mollath sei von einem »paranoiden Wahnsystem« besessen. Ende 2011 wurden Fakten bekannt, die Zweifel an diesem Urteil erwecken. Vor knapp zwei Wochen veranlasste die bayerische Justizministerin die Wiederaufnahme des Verfahrens, nachdem eine öffentliche Debatte über Zwangeinweisungen begonnen hatte.