Der Mord an drei Kurdinnen in Pa

Dunkle Kräfte

Wer ist verantwortlich für die Ermordung von drei kurdischen Aktivistinnen in Paris? Es spricht wenig dafür, dass es sich um eine Abrechnung innerhalb der PKK oder ein Attentat im Auftrag der türkischen Regierung handelt.

Die Morde sind rätselhaft. Sakine Cansız (54), Gründungsmitglied der PKK, befand sich am Mittwoch vergangener Woche zusammen mit den Aktivistinnen Fidan Doğan (30) und Leyla Şaylemez (24) im Informationsbüro der PKK in der Pariser Lafayette-Straße. Als Freunde die Frauen telefonisch nicht erreichen konnten, brachen sie um ein Uhr nachts schließlich gewaltsam in das Büro ein und fanden drei Leichen vor. Die Frauen waren mit mehreren Kopfschüssen aus nächster Nähe getötet worden. Es wurden Schalldämpfer benutzt, das spricht gegen eine privat motivierte und für eine geplante, professionelle Tat.
Seltsam ist, dass es in der Wohnung keinerlei Kampfspuren gegeben haben soll. Das berichten die Augenzeugen. Die Frauen saßen demnach vor ihrer Ermordung neben einem Koffer und waren dabei zu packen. Leyla Şaylemez und Sakine Cansız hatten Bahntickets, weil sie an einer politischen Veranstaltung in Deutschland teilnehmen sollten. Die häusliche Atmosphäre überrascht nicht, denn eine der Frauen wohnte in der Zweizimmerwohnung. Aber hätten die Aktivistinnen gemeinsam weiter gepackt, wenn sich Unbekannte in der Wohnung befunden hätten? Alle Indizien deuten darauf hin, dass sie selbst die Tür geöffnet haben und es mehrere Täter waren.
Die einfachste Erklärung kam von Recep Tayyip Erdoğan. Der türkische Ministerpräsident sprach schon am Folgetag von einer Abrechnung innerhalb der PKK. »Das ist ja ein Ort, der von innen verriegelt wird. Da werden kennwortverschlüsselte Sicherheitsschlösser benutzt«, stellte er fest. »Das heißt, die drei haben Leuten die Tür geöffnet, die sie kannten.« Doch nur die Eingangstür des Gebäudes hat ein Zahlenschloss, und tagsüber kann sich dort jeder als angeblicher Postbote oder unter einem anderen Vorwand Einlass verschaffen. Auch die Tür können die Frauen arglos geöffnet haben.
Eine kurdische Journalistin hatte Sakine Cansız noch ein paar Tage zuvor interviewt und keinerlei Anzeichen eines Gefahrenbewusstseins bei ihr registriert. Die PKK-Funktionärin habe sich nicht bedroht gefühlt, sondern sei vor allem mit ihrer politischen Arbeit beschäftigt gewesen. Doch auch wenn die Frauen ihre Mörder gekannt haben, muss es sich nicht um eine interne Abrechnung der PKK handeln. Das Einschleusen von V-Leuten oder Agenten beherrschen Sicherheitskräfte, Geheimdienste und illegale Organisationen weltweit.

Doch nicht nur die offizielle türkische Politik, auch kurdische PKK-Kritiker interpretieren die Morde aus dieser Perspektive. Baki Karer vertritt die These, dass es auch innerhalb der PKK Kontraguerrilla-Strukturen gibt. Sein Bruder Hakı Karer gehörte zu den frühen Weggefährten Abdullah Öcalans, des Gründers und Anführers der PKK, und wurde 1977 erschossen. Die PKK beteuert bis heute, der Mörder sei ein Provokateur gewesen. Baki Karer ist davon überzeugt, dass sein Bruder gezielt geopfert wurde, um Abdullah Öcalans Position zu stärken.
Baki Karer suggeriert zusammen mit anderen kurdischen Intellektuellen auf der Website Nasname, dass die Kontras der PKK Sakine Cansız haben umbringen lassen, die anderen beiden seien als Zeuginnen beseitigt worden. Es handle sich um die üblichen Streitigkeiten um Macht und Geld. Der Geldfluss aus Europa in den Nord­irak sei einer der Hauptkonflikte zwischen der Militärspitze in den nordirakischen Bergen und leitenden Funktionären der Organisation in Europa. »Immer wurde Sakine für große Geldtransporte benutzt. Das ist eine sehr gefährliche Aufgabe«, stellt Karer fest. Sakine Cansız hatte in den vergangenen 30 Jahren als PKK-Funktionärin sicher Gefahrenbewusstsein entwickelt. Warum sollte sie so ahnungslos über eine interne Gefahrenquelle gewesen sein?
Wer hatte ein Interesse an dem Tod der Aktivistinnen? Der offiziellen türkischen Politik nützt er nichts. Die islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) führt seit zwei Wochen ganz offiziell Gespräche mit Abdullah Öcalan. Es sollen die Modalitäten für eine Beendigung des bewaffneten Kampfes der PKK ausgehandelt werden. Die prokurdische Partei für Frieden und Demokratisierung (BDP) ist in diesen Prozess einbezogen worden und führt ebenfalls Gespräche mit Öcalan auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmara-Meer. Dort verbüßt Öcalan seit 1999 eine lebenslange Haftstrafe. Eine seiner Forderungen als Basis für eine Entwaffnung der PKK ist die Umwandlung seiner Haftstrafe in Hausarrest.

In den Verhandlungen geht es um eine komplexe Strategie zur Lösung des Konflikts in der Türkei, etwa um das Recht der Kurden auf Bildung in der Muttersprache, um die Möglichkeit, dezentral organisierte lokale Kommunalverwaltungen einzurichten, und um die Amnestie vieler in Haft oder Untersuchungshaft sitzender Aktivisten aus dem Umfeld der PKK und der prokurdischen Bewegung. Und es geht um den Verbleib der im Nord­irak stationierten Militärführung der PKK.
Es gibt auch in der PKK Gegner dieser Gespräche, doch der Widerstand ist außerhalb der PKK weit größer. Die Organisation hat das erste Mal die Möglichkeit zu offiziellen Verhandlungen. Im türkischen Fernsehen laufen Dokumentarfilme über das Baskenland und über den Friedensprozess in Irland in einer nie dagewesenen komparativen Art und Weise. Der kurdische Journalist Günay Aslan schreibt in seinem Blog zu den in Frankreich kursierenden Spekulationen über einen eventuellen türkischen Auftrag für die Morde: »Wenn die AKP plötzlich Auftragsmorde im Stil des israelischen oder iranischen Geheimdienstes initiiert, diskreditiert sie die eigene politische Zukunft und auch die Position der Türkei als Regionalmacht.«
Ähnliches gilt momentan für die Führung der PKK, zumal für viele ihrer Anhänger die Friedensgespräche eine Quelle der Hoffnung sind. Viele Führungskader dürften auch auf die Möglichkeit eines europäischen Exils hoffen. Warum sollte die Organisation dann die eigenen Leute in Europa umbringen lassen? Das erscheint so wenig wahrscheinlich wie die Theorie, der französische Geheimdienst stecke dahinter, um sich strategische Vorteile in Syrien und der Region zu verschaffen. Welche sollten das sein? Weder die EU noch Frankreich haben Gründe dafür, die kurdisch-türkischen Verhandlungen zu torpedieren.
Der AKP-Abgeordnete Galip Ensarioğlu aus der südostanatolischen Provinzhauptstadt Diyarbakır vermutet, dass der Iran und Russland ein Interesse an einer politischen Destabilisierung der Region haben, um den eigenen Einfluss dort zu erhalten. Eine politische Intrige gegen die Türkei, deren wundester Punkt das Kurdenproblem sei, stecke dahinter, um diese als Regionalmacht zu schwächen. Auch diese Theorie ähnelt einem Szenario aus den finstersten Zeiten des Kalten Krieges. Der Iran hat in der Vergangenheit Dis­sidenten in Europa umbringen lassen, darunter auch Kurden, allerdings ausschließlich solche iranischer Herkunft.
Näherliegend ist es, Täter in Europa zu suchen, die aber durchaus Verbindungen ins Ausland haben können. Am Freitag voriger Woche gab der Exekutivrat des Kurdischen Nationalkongresses (KNK) in Brüssel eine Presseerkläung ab, in der die »Türkische Gladio« für die Morde in Paris verantwortlich gemacht wird: »Der Mord trägt die Handschrift dieser dunklen Kräfte.« Mit der »türkischen Gladio« sind in der Zeit des Kalten Krieges von der Nato aufgebaute geheime Sondereinheiten gemeint, die inoffiziell als sogenannte Kontraguerrilla zur Diskreditierung prokommunistischer Organisationen agierten. Die Hintergründe wurden nie ganz aufgeklärt, doch lösten sich die meisten Gruppen in den siebziger und achtziger Jahren auf.
In der Türkei kam es in den neunziger Jahren zu einer unheilvollen Wiederbelebung. Inwieweit auch ausländische Geheimdienste darin verwickelt waren, bleibt undurchsichtig. In der Vergangenheit waren oft paramilitärische Einheiten für die Ermordung Oppositioneller oder politisch wichtiger Symbolfiguren verantwortlich. Bei den Tätern handelte es sich oftmals um im Gefüge des türkischen Geheimdiensts arbeitende ehemalige Militärangehörige, Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste mit Verbindungen zur nationalistischen Mafia oder auch kurdische Überläufer und Auftragskiller. Diese Strukturen wurden allerdings in den vergangenen Jahren von der AKP-Regierung bekämpft. Die Akteure sind entweder im Gefängnis oder politisch marginalisiert.
Gibt es in ihrem Umfeld Gleichgesinnte, die weiterhin morden? Die PKK favorisiert diese Vermutung. Diese Kreise hätten Gründe, den Friedensprozess zu torpedieren. Seit Monaten wird der Einfluss der PKK auf die kurdische Opposition in Syrien in den türkischen nationalistischen und konservativen Medien in den schillernsten Farben geschildert. Unterorganisationen der Grauen Wölfe sitzen ebenso wie die PKK in Europa, vor allem in Deutschland und Frankreich, und ihre Mitglieder verfolgen diese Nachrichten im Internet. Ihr schlimmster Albtraum ist ein zweites autonomes kurdisches Gebiet neben dem Nordirak.
In der Türkei sind innerhalb des islamisch-konservativen Lagers viele Nationalisten und auch Teile der im Polizeiapparat mittlerweile erstarkten Bewegung des Islamistenführers Fethullah Gülen strikt gegen Verhandlungen mit der PKK. Als säkular orientierte Bewegung soll die PKK keine Dominanz erhalten, diese Kreise verstanden sich schon immer besser mit der islamischen Bewegung unter den Kurden. Die verfügt seit den neunziger Jahren mit der Hizbollah über eine Organisation von professionellen Killern, die in der Türkei für viele unaufgeklärte Morde verantwortlich sind. Aber wie naheliegend ist für diese Kräfte ein Attentat auf kurdische Aktivistinnen in Paris? Ein Anschlag in der Türkei wäre genauso wirkungsvoll. Auch viele Anhänger der PKK träumen immer noch von einer Ausweitung des eigenen Einflussgebietes auf das auseinanderfallende Syrien und von einem – von Abdullah Öcalan nicht mehr angestrebten – eigenen Staat.
Einige aus diesen Fraktionen, egal ob es sich um Kurden, Nationalisten oder Islamisten handelt, haben überhaupt kein Interesse an einer Aufgabe des Kampfes. Denn die Finanzierung und Ausrüstung des Krieges ist ihre Haupteinnahmequelle und der politische Konflikt bestimmt ihr eigenes ideologisiertes nationalistisches Weltbild. Falls es nicht bislang unbekannte Hintergründe dieser Morde gibt, haben solche Kreise ein besseres Motiv für das Attentat als die momentan am Dialog interessierten politischen Akteure.