Ali Schirasi im Gespräch über die internen Konflikte des Regimes und den Zustand der Oppositionsbewegung

»Dieser Vulkan wird ausbrechen«

Ali Schirasi war zur Zeit des Schahs Lehrer im Iran. 1962 gründete er mit Kollegen eine Lehrergewerkschaft. Wegen seiner politischen Aktivitäten wurde er mehrmals verhaftet. 1987 gelang ihm die Flucht aus dem Iran. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Deutschland. Mit ihm sprach die Jungle World über die internen Konflikte des iranischen Regimes, die dramatische Wirtschaftslage und den Zustand der Opposition.

Am 4. Februar ist der ehemalige oberste Staatsanwalt von Teheran, Saeed Mortazavi, verhaftet worden. Er war unter anderem für die Verfolgung der »grünen Bewegung« 2009 und 2010 verantwortlich. War das späte Gerechtigkeit? Nein, das ist ein Konflikt unter den sogenannten »Prinzipialisten«, die manchmal auch als Konservative oder Hardliner bezeichnet werden. Seit 2009 die Reformer von der politischen Bühne verdrängt wurden, haben sie auch untereinander Konflikte. Auf der einen Seite stehen Ahmadinejad und der sehr radikale Ayatollah Mesbah Yazdi, auf der anderen die Anhänger des religiösen Führers Khamenei. Dazu gehören ein großer Teil der Generäle, der Revolutionswächter, das Parlament, in dem seit der letzten Parlamentswahl kaum noch Verbündete Ahmadinejads sitzen, der Parlamentsvorsitzender Ali Larijani und sein Bruder Sadegh, der Chef des Justizsystems. Mortazavi gehört zur Fraktion Ahmadinejads. Er wurde also nicht wegen seiner Verbrechen verhaftet, sondern weil er die falschen politischen Freunde hatte? Mortazavi war 2009 in Teheran als oberster Staatsanwalt und Richter für das berüchtigte Gefängnis Kahrizak verantwortlich, in dem festgenommene Protestierende systematisch gefoltert, vergewaltigt und sogar getötet wurden. Unter den Toten war auch der Sohn eines mächtigen Mannes aus dem Umfeld Khameneis. Dessen Familie will seitdem am liebsten Mortazavis Kopf auf einem Tablett. Aber Mortazavi wurde verhaftet, nachdem Ahmadinejad in einer spektakulären Aktion im iranischen Parlament ein Video gezeigt hatte, das die korrupten und kriminellen Machenschaften eines weiteren Larijani-Bruders, Fazel, belegen sollte. Hat nicht Ahmadinejad in diesem Konflikt die schlechteren Karten, wenn er sich mit dem religiösem Führer, der Justiz und dem Parlament anlegt? Ahmadinejad wurde 2009 ja angeblich von 22 Millionen Iranern gewählt. Das Regime deutet das als Zustimmung des Volkes zu seiner Politik und der Präsident möchte das als Trumpf ausspielen. Diese Aktion im Parlament war wirklich eine große Katastrophe für Khameneis Machtsystem. Ahmadinejad hat gedroht, noch viel pikantere Details aus dem Innenleben des Regimes offenzulegen, auch über Khameneis Sohn Mojtaba, der 2008 und 2009, vor und während der umstrittenen Präsidentschaftswahl, den Geheimdienst organisiert hat. Deswegen hat Khamenei selbst Angst, und nach nur einem Tag im Evin-Gefängnis wurde Mortazavi, dieser Henker, wieder freigelassen. Was bedeutet denn dieser Streit zwischen den Prinzipialisten für die verfolgte und unterdrückte Opposition? Wie steht es denn gerade um das gesellschaftliche Protestpotential? Man liest davon wenig in den westlichen Zei­tungen. Aber im Untergrund braut sich da etwas zusammen. Ich bin sicher, das bricht eines Tages wie ein Vulkan aus. Ein solcher Streit wie der zwischen Ahmadinejad und dem Rest des Regimes macht deutlich, dass diese isla­mische Regierung in Wahrheit eine Mafia-System ist. Es gibt darin vier oder fünf Gruppen, die gegeneinander kämpfen, während die Menschen verarmen. Wegen der Sanktionen wachsen die Probleme des Regimes. Die Öleinnahmen werden immer geringer. Die Preise steigen nicht um ein oder zwei Prozent, sondern jede Woche um zehn bis 15 Prozent, und die Menschen haben jetzt große Probleme, Nahrungsmittel zu bezahlen. Wie reagiert denn die Bevölkerung darauf, wenn Ahmadinejad versucht, die anderen Machthaber als korrupt darzustellen? Als Mortazavi festgenommen wurde, wussten alle, dass er eine wichtige Person für Ahmadinejad ist, aber vor dem Gebäude der Judikative haben nur 50 Anhänger des Präsidenten demonstriert. Wenn die iranische Bevölkerung in Ahmadinejad Vertrauen hätte und ihn unterstützen wollte, dann hätten eigentlich Zehntausende dort demons­trieren müssen. Wie sieht es denn mit der Protestbewegung im Iran aus? Die ist doch eigentlich seit 2010 weitgehend unterdrückt worden. Die Formen des Protests mussten sich ändern. Ein großer Teil der Jugendlichen ist nach der Unterdrückung durch Gefängnis, Folter und Hinrichtungen in den Untergrund gegangen. Es gibt zwei bekannte große Untergrundzeitungen, Badr und Alternativ, die über die Probleme der Menschen im Iran berichten. Diese Zeitungen werden im ganzen Land verteilt. Sieht man denn gar keinen öffentlichen Unmut mehr? Doch. Ein anderer Teil der Bewegung versucht, auf legalem Weg Proteste zu organisieren. In Zeitungen kann man lesen, dass etwa Arbeiter einer Firma, die seit Monaten keinen Lohn bekommen, zum Parlament gegangen sind und eine Sitzblockade organisiert haben oder dass andere vor ihrer Fabrik demonstrieren. Solche Arbeitskämpfe sind häufig. Aber im Ausland hört man davon sehr wenig. Auch die Unternehmer sind unzufrieden, weil Ahmadinejad Kredite versprochen hat und die Zentralbank nichts gibt. Die Unternehmer haben selbst keine Dollars, um zu bezahlen, was sie importieren. Oft läuft nur noch ein Viertel des Betriebs. Welche Rolle spielt die Opposition im Ausland? Bei den Monarchisten, den liberalen und den säkularen Gruppen sowie bei Linken im Ausland gab es viele Konflikte. Sie haben jeweils in Kanada, in den USA, in Europa und auch in Deutschland ihre eigenen Treffen und Konferenzen abgehalten. Sie meinen, im Iran komme bald die Chance eines regime change. Vor einigen Tagen gab es auch ein solches Treffen von 16 verschiedenen Gruppierungen der iranischen Linken in Deutschland. Natürlich wollten sie vor dem Treffen nicht öffentlich bekanntmachen, wo es stattgefunden hat, weil sie auch in Deutschland vor der iranischen Regierung Angst haben. Wird es bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen wieder Demonstrationen wie 2009 geben? Es ist nicht ausgeschlossen. Die Regierung muss zumindest den Anschein einer Wahl erwecken oder in einer vorentschiedenen Situation nur Leuten einer einzigen Fraktion die Kandidatur genehmigen. Im letzteren Fall kann man aber nicht mehr von einer Wahl sprechen. Die Regierung versucht derzeit, in diese Richtung zu gehen. Vor zwei Wochen hat sie angefangen, Journalisten und bekannte Reformer festzunehmen, die jetzt im Gefängnis sitzen. Die Revolutionswächter und die Generäle haben angekündigt, sie würden selbst dafür sorgen, dass bei der Wahl alles so läuft, »wie es soll«. Auf der anderen Seite argumentieren die inzwischen entmachteten Reformer, wie die ehemaligen Präsidenten Rafsanjani und Khatami: »Unser Land wird kaputt gemacht, wenn die Menschen gar nichts mitentscheiden können.« Wäre das nicht taktisch klug für das Regime? Nein. Wenn die Menschen in den fünf Monaten bis zur Präsidentschaftswahl die Möglichkeit bekommen, auf die Straße zu gehen, dann bekommt diese Regierung große Probleme. Natürlich hat das seinen Preis. Wenn die Regierung für eine geschlossene Atmosphäre sorgt, dann wird auch der letzte Rest Vertrauen in die »demokratische« Legitimierung des Regimes verschwinden. Aber für die iranische Bevölkerung ist das Problem heute nicht die Präsidentschaftswahl, sondern die wirtschaftliche Situation. Welche Rolle spielen da die Wirtschaftssank­tionen? Die Währung verliert täglich dramatisch an Wert. Die Industrie und die Landwirtschaft sind lahm. Was die Menschen im Iran kaufen können, ist zu 60 bis 70 Prozent importiert. Jeden Tag werden Firmen und Läden geschlossen. In den vergangenen Tagen sind zwei bekannte private Krankenhäuser geschlossen worden. Die Patienten konnten nicht mehr bezahlen, der Staat konnte keinen Kredit geben und diese Krankenhäuser mussten alles importieren und in Dollar bezahlen. Der Iran hatte im vorigen Jahr mehr als 100 Milliarden Dollar an Öleinnahmen. Nach Informationen der iranischen Nachrichtenagentur hat die Zentralbank 60 Milliarden eingenommen. Der Iran ist jetzt wie eine Kaserne. Aber wie lange bleiben die bewaffneten Organe ruhig, wenn sie nicht bezahlt werden? Die Basij-Milizen oder die 120 000 Revolutionswächter? Der einfache Soldat kann sich auch nicht finanzieren, wegen der Sanktionen und der Inflation, die täglich steigt. Deswegen wird dieser Vulkan ausbrechen.