Krise und Arbeitslosigkeit in Frankreich

Selbstmord vor dem Arbeitsamt

Die Krise erfasst Frankreich erneut mit voller Wucht. In Nantes hat sich ein Erwerbsloser selbst verbrannt. Indessen stehen Massenentlassungen in der Automobilindustrie auf dem Programm.

Muss man auf hohe Baukräne klettern, um heute noch für soziale Anliegen Gehör zu finden? Die libertär-kommunistische Gruppe Alternative Libertaire jedenfalls forderte am Wochenende in einer Erklärung dazu auf, überall die Baukräne zu entern. Der sarkastische Aktionsvorschlag spielte darauf an, dass mehrere geschiedene Väter im westfranzösischen Nantes auf 40 Meter hohe Kräne gestiegen waren, um ihre Forderung nach einem Sorgerecht für ihre Kinder, das zuvor gerichtlich den Müttern zugesprochen worden war, öffentlichkeit zu machen. Justizministerin Christiane Taubira trat am Montag in Verhandlungen mit Vertretern der Väterrechtsbewegung ein, deren allgemeine Forderungen umstritten und zum Teil mit reaktionärer Ideologie vermischt sind.
Das Aufsehen, das Serge Charnay – der erste der Kranbesteiger in Nantes – mit seinem dreitägigen Aufenthalt in luftiger Höhe erregen konnte, verdrängte in den Medien erfolgreich eine andere spektakuläre Protestform. In den Tagen zuvor hatten sich in Frankreich mehrere Arbeitslose mit Benzin übergossen und angezündet, um ihrer Verzweiflung Ausdruck zu verleihen. Am Mittwoch vergangener Woche starb auf diese erschreckende Weise in Nantes der 43jährige Djamel Chab. Er hatte in den Tagen zuvor seine Selbstverbrennung in E-Mails an die örtliche Tageszeitung L’Océan angekündigt. Chab hatte der Arbeitsagentur vorgeworfen, seinen Antrag auf Erwerbslosengeld abgelehnt zu haben, obwohl er zuvor 720 Stunden erwerbstätig gearbeitet hätte, während das Gesetz nur 610 Stunden dafür verlangt. Nach bislang bekannt gewordenen Informationen hatte sich sein vorausgehender Bezug von Erwerbslosengeld um ein paar Tage mit dem Beginn seiner Beschäftigung als Leiharbeiter überschnitten, weshalb sein Antrag abgelehnt wurde.
Chab sah für sich keinen anderen Ausweg mehr. Sein Beispiel zog andere, ähnliche Taten von Erwerbslosen im Laufe der vergangenen Woche nach sich. Und es handelt sich nicht um Einzelfälle. In einer Rundfunksendung am Montag früh war etwa zu erfahren, dass Psychologen schätzen, 750 Suizidfälle zwischen 2008 und 2011 seien mehr oder minder direkt auf die soziale und ökonomische Lage der Betroffenen zurückzuführen. Um Menschen in vergleichbarer Lage nicht in ihrer Vereinzelung und scheinbaren Ausweglosigkeit zu belassen, werden nun Proteste vor den Arbeitsagenturen organisiert. Eine erste Welle von Kundgebungen fand am Dienstag statt, nachdem bereits am Samstag rund 200 Menschen an einem Schweigemarsch für Djamel Chab in Nantes teilgenommen hatten. Weitere Aktionen sollen am 5. März im Rahmen eines Aktionstags mehrerer Gewerkschaften und erneut am 12. März auf Aufruf von Erwerbslosenausschüssen der CGT stattfinden.

Das gesamte Jahr 2012 hindurch stieg die Erwerbslosigkeit in Frankreich von Monat zu Monat ohne Unterbrechung. Nach dem ersten Krisenjahr 2008 setzte da die zweite Welle von Arbeitsplatzverlusten und Kündigungen ein, die wegen der Präsidentschaftswahl im vergangenen Mai und infolge von Absprachen zwischen dem damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy und vielen Großunternehmen nur vorübergehend aufgehalten worden war – bis nach den Wahlen. Und ein Ende ist nicht abzusehen. Allein im Bezirk Seine-Saint-Denis nördlich von Paris, der bis vor einigen Jahren eine hohe Industriedichte aufwies und mittlerweile teils zur Krisenzone geworden ist, stecken derzeit 18 000 entlassene Lohn­abhängige in der Kündigungsfrist oder im Kündigungsverfahren.
Das entspricht über einem Prozent der Bevölkerung, zählt man vom Kind bis zur Greisin alle Einwohner mit. In diesem Bezirk stellte die soziale Hilfsorganisation Secours populaire – sie stand früher einmal der KP nahe – zu Anfang dieser Woche alle Neueinschreibungen von Hilfsbedürftigen ein. Sie verfüge über keinerlei Mittel mehr, um den Bedürfnissen nach Nahrungsmittel- oder Kleiderspenden nachzukommen, hieß es.
Zugleich sollen tiefgreifende soziale Einschnitte vorgenommen werden, die allerdings seit längerer Zeit angestrebt wurden. Der Abbau zahlreicher Arbeitsplätze ist derzeit bei den großen Automobilherstellern Renault und PSA (Peugeot-Citroën) geplant, wie weltweit in diesem Sektor, der sich in der Krise umstrukturiert. Tatsächlich haben die Automobilkonzerne seit dem Beginn der Rezession Absatzrückgänge zu verzeichnen. Doch der Umsatzrückgang wird benutzt, um durch Hinzufügen einiger Elemente eine noch viel stärkere Schockwirkung zu erzeugen. Ende vergangener Woche meldete PSA ohne Vorwarnung einen Verlust von fünf Milliarden Euro für das vergangene Jahr an. Dies sollte die Öffentlichkeit überzeugen, dass die Situation wirklich gravierend sei und die roten Zahlen so beängstigend, dass radikale Maßnahmen – wie die Schließung des Standorts in Aulnay-sous-Bois (in Seine-Saint-Denis) mit 8 000 Stellen – gerechtfertigt seien. Allerdings widerspricht die CGT der Diagnose: Vier von fünf Milliarden des angegebenen Verlusts gehen der CGT zufolge auf eine buchhalterische Entscheidung zurück, nämlich den Beschluss, die gesetzlich mögliche Abschreibung früherer Investitionen genau zum jetzigen Zeitpunkt vorzunehmen. In früheren Jahren gebaute Produktionsanlagen werden deswegen alle auf einmal zum jetzigen Zeitpunkt als Negativposten in der Bilanz ausgewiesen.
Der Konkurrent Renault schreibt zwar noch schwarze Zahlen, surft aber auf derselben Welle. Er drohte in den vergangenen 14 Tagen wiederholt damit, gleich zwei Produktionsstandorte in Frankreich vollständig dichtzumachen, falls die Direktion nicht mit dem Ansinnen durchkommt, eine Betriebsvereinbarung abschließen zu lassen, die einen »Produktivitätspakt« beinhaltet. Bis kommende Woche wird sich nun entscheiden, welche und wie viele Gewerkschaften bei Renault einem solchen Abkommen zustimmen. Bei PSA haben sich vier von fünf größeren Gewerkschaften bereits gesprächs- und abschlussbereit erklärt. Renault plant derweil, im Jahr 2016 genau so viele Autos zu bauen wie 2008 vor dem Ausbruch der Krise – aber mit 12 000 Lohnabhängigen weniger.
Betriebliche »Produktivitätspakte«, die Lohnsenkungen oder Kurzarbeit oder aber Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich für einen Zeitraum bis zu zwei Jahren beinhalten, wären bis vor kurzem illegal gewesen. Doch eine Vereinbarung vom 11. Januar zwischen dem Arbeitgeberlager und drei von fünf französischen Gewerkschaftsverbänden – unter ihnen ist die sozialdemokratische geführte CFDT der stärkste – lässt sie zu. Im April will die französische Regierungskoalition aus Sozialdemokraten und Grünen die Vereinbarung, im Namen des »Respekts vor den Beschlüssen der Sozialpartner«, in Gesetzesform gießen und dadurch die Tarifgesetzgebung ändern. Allerdings regt sich darüber Unmut im linken Flügel beider Parteien. Und bei den Gewerkschaften werden die CGT – als noch immer stärkster Dachverband – sowie FO, die Bildungsgewerkschaft FSU und die linken SUD-Gewerkschaften am 5. März gegen die Vereinbarung streiken und demonstrieren.

Punktuell regt sich indessen Widerstand, vor allem auf Unternehmensebene und dort, wo ein starker Abbau von Arbeitsplätzen droht. Etwa bei dem Stahlhersteller Arcelor Mittal, der den letzten Rest der lothringischen Stahlindustrie in Florange einzustampfen droht, obwohl der Produktionsstandort rentabel ist. Der weltweit agierende anglo-niederländisch-britische Konzern möchte seine Produktion gern an einigen Standorten konzentrieren. Als bescheidenen Abwehrversuch plant die Regierung unter Präsident François Hollande nun, per Gesetz Unternehmen oder Konzerne dazu zu verpflichten, einen Abnehmer zu suchen, falls der von ihnen abgestoßene Standort schwarze Zahlen schreibt – was diese oft nicht tun, um zu verhindern, dass die Aufkäufer ihnen künftig Konkurrenz machen. Hingegen schließt die Regierung Verstaatlichungen oder Vergesellschaftungen, wie sie noch in den acht­ziger Jahren als Instrument gegen Kapitalstrategien praktiziert wurden, heute als Verstoß gegen ein neues Dogma definitiv aus. Unterdessen entglasten abhängig Beschäftigte von Arcelor Mittal aus Frankreich, Belgien und Luxemburg am ersten Mittwoch im Februar Teile der Innenstadt von Strasbourg, als sie vor dem Europa-Parlament demonstrierten. Sie wollen ihre wirtschaftliche Existenz retten oder zumindest die Abfindungen so weit wie möglich in die Höhe treiben.
Premierminister Jean-Marc Ayrault bereitet Frankreich derweil darauf vor, dass es im laufenden Jahr den EU-»Sparpakt« nicht einhalten und eine Steigerung des Haushaltsdefizits um mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufweisen werde – weshalb weitere Einschnitte notwendig seien.