Konfessionalismus in Libanon

Politik als Glaubenssache

Im Libanon wird derzeit heftig über das konfessionalisierte Wahlsystem diskutiert. Ein Zurückdrängen des Konfessionalismus wäre auch für die Region ein wichtiges Vorbild.

Der Libanon wird immer mehr in den syrischen Konflikt gezogen. Tagelange Kämpfe zwischen prosyrischen und antisyrischen Milizen erschütterten vergangene Woche das Land. Die Libanesen spalten sich in zwei etwa gleich große Lager. Die einen wollen den syrischen Diktator Bashar al-Assad stürzen, die anderen unterstützen ihn. Am Freitag vergangener Woche ist auch noch die Regierung zurückgetreten. Allerdings sind die größten Zankäpfel derzeit der Konfessionalismus und das Wahlgesetz, rein interne und sehr libanesische Angelegenheiten. Die Debatte scheint weit weg von den Turbulenzen der Region und doch könnte sie Signalwirkung entfalten.
Nicht zum ersten Mal kam es vergangene Woche zu bewaffneten Kämpfen zwischen Sunniten und Alawiten im nordlibanesischen Tripoli. Diesmal dauerten sie drei Tage, zwölf Menschen starben. Zwei Tage zuvor hatte die syrische Luftwaffe erstmals Raketen auf nordlibanesisches Gebiet abgefeuert. Das syrische Regime hatte den Angriff angekündigt für den Fall, dass weiterhin syrische Rebellen vom Libanon aus agierten. Längst sind Libanesen in den Krieg in Syrien verwickelt. Die schiitische Hizbollah schickt Kämpfer, um das Assad-Regime zu stützen. Sunnitische Islamisten ziehen gegen Assad in den syrischen Jihad. Der wirtschaftsliberale Hariri-Clan rüstet islamische Rebellen auf.

Der gerade zurückgetretene Ministerpräsident Najib Mikati mahnte zwar regelmäßig, sich nicht in den syrischen Konflikt einzumischen. Doch kann kaum erstaunen, dass sich niemand daran hält. Schließlich spalten sich die politischen Lager des Libanon seit der sogenannten Zedernrevolution 2005 an der Frage, wie man es mit dem Assad-Regime hält. Damals campten jugendliche Demonstranten auf dem Märtyrerplatz, um gegen die Einmischung Syriens in die Politik des Libanon zu protestieren. Dagegen brachte die prosyrische Hizbollah am 8. März vor acht Jahren eine halbe Million Menschen auf die Straße. Einige Tage später, am 14. März, demonstrierten eine Million Menschen gegen den syrischen Einfluss. Seitdem stehen sich die zwei Lager gegenüber. In der Allianz des 14. März finden sich vor allem Sunniten und maronitische Christen, in der des 8. März sammeln sich Schiiten, Drusen und Christen.
Eine solche politische Polarisierung ist ungewöhnlich in der Konkordanzdemokratie des Libanon. Die Verfassung basiert auf dem Ausgleich zwischen den Konfessionen. Nach einem festgelegten Schlüssel werden Abgeordnete der 18 offi­ziellen Religionsgemeinschaften ins Parlament gewählt. Bis 2005 bildeten nicht politische Koa­litionen eine Regierung, vielmehr wurden alle wichtigen konfessionellen Gruppen beteiligt.
Inzwischen kämpfen die beiden Lager um die politische Macht. Bis zum Juni 2011 stellte das Bündnis des 14. März die Regierungskoalition, dann übernahmen Politiker des 8. März unter Mikati. Er trat am Freitag vergangener Woche zurück, weil das Kabinett die Verlängerung der Amtszeit des Polizeichefs, Ashraf Rifi, und die Einrichtung einer Wahlaufsichtsbehörde verweigert hatte. Rifi ist ein Gegner Assads, die von der Hizbollah gestellten Minister wollten ihn daher nicht mittragen. Der Sunnit Mikati hatte auf einen Ausgleich zwischen den Lagern gehofft und ist damit gescheitert. Der Konflikt um das Wahlgesetz ist allerdings kein Lagerkampf. Am 9. Juni soll ein neues Parlament gewählt werden. Niemand ist mit dem bisherigen Wahlsystem glücklich. Es ist zu kompliziert, die Schiiten finden es ungerecht, die Christen halten es für verzerrend. Noch dazu müssen die Wahlberechtigten in ihrem Herkunftsort wählen, was Millionen von Exillibanesen ausschließt.
Im Januar trafen sich Vertreter aller wichtigen christlichen Parteien und einigten sich, obgleich sie verfeindeten politischen Lagern angehören, auf einen Entwurf für ein neues Wahlgesetz. Dem als »Orthodoxes Gesetz« bezeichneten Vorschlag zufolge sollen die Wahlkreise abgeschafft und damit die Wahl für Exillibanesen geöffnet werden. Allerdings sollen die Wähler nur noch für Kandidaten ihrer Konfession stimmen. Das hat nun eine hitzige Debatte über Sinn und Unsinn des Konfessionalismus eröffnet.
Bisher wählten die Libanesen Listen mit Kandidaten entsprechend der konfessionellen Verteilung in ihrem Wahlkreis, zum Beispiel zwei Sunniten, einen Schiiten, einen Maroniten, einen Griechisch-Orthodoxen. Der Schlüssel ist politisch festgelegt und entspricht nur ungefähr dem tatsächlichen Verhältnis der Religionsgemeinschaften. Die Christen kritisieren, dass ihre Kandidaten somit mehrheitlich von Muslimen gewählt werden. Jüngsten Erhebungen zufolge sind 38 Prozent der Wahlberechtigten Christen. Gleichwohl geht die Hälfte der Parlamentssitze an sie. An diesem Proporz zwischen Muslimen und Christen will niemand rütteln. Schließlich haben sich bisher alle libanesischen Bürgerkriege auch am Konflikt zwischen Christen und Muslimen entzündet. Ein schlichtes Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht scheidet somit als Lösung aus.

Durch das neue Gesetz würden nun aber die Abgeordneten allein Vertreter ihrer Religionsgemeinschaft sein und nicht mehr ihres Wahlbezirks. Dagegen formierte sich Protest aus liberalen Kreisen. Das Gesetz treibe den Konfessionalismus auf die Spitze, die Religionsgemeinschaften würden sich politisch einigeln. Aber mancher Gegner des Konfessionalismus freute sich. So reaktionär der Entwurf sei, räsoniert der Blogger Karl Sharro, berge er erstmals die Möglichkeit, dass Kandidaten jenseits der Zu’ama, der lokalen Stammesfürsten, gewählt würden. Wenn jeder aus einer unbestimmten Zahl von Kandidaten seiner Konfession wählt, statt für eine Liste zu stimmen, auf die sich die lokalen Führer geeinigt haben, dann hätten auch andere Kandidaten eine Chance. Nicht mehr Abstammung würde entscheiden, sondern politische Fähigkeit, wenn auch nur innerhalb einer Konfession. Der Blogger Qifa Nabki hofft, dass das Gesetz die antikonfessionelle Protestbewegung stärkt: »Der Mythos interkonfessioneller Harmonie wäre zerstört.«
Doch nicht nur das Wahlrecht, auch das Familien- und Erbschaftsrecht ist konfessionell geregelt – auch hiergegen kämpften Antikonfessionalisten. Sogar über die Bewegungsfreiheit von Frauen entscheiden religiöse Instanzen. Heiraten kann man nur innerhalb seiner Religionsgemeinschaft. Viele konvertieren deshalb, andere reisen nach Zypern, um dort standesamtlich zu heiraten. Kholoud Sukkariyah und Nidal Darwish fanden beides absurd und entdeckten eine Gesetzeslücke. Das 1936 unter französischem Mandat erlassene Gesetz erlaubt Menschen, die keiner der 18 anerkannten Religionsgemeinschaften angehören, die zivile Eheschließung. Und ein Gesetz aus dem Jahr 2009 erlaubt es, die Konfession im Ausweis streichen zu lassen. Das taten die beiden und ließen sich daraufhin von einem Notar trauen. Es folgte ein Aufschrei der Geistlichen. »Jeder, der die Zivilehe unterstützt, ist ein Apostat«, erklärte der oberste sunnitische Mufti Mohammed Rashid Kabbani. Christliche und schiitische Geistliche stimmten ihm zu. Dem Paar wurde angekündigt, es dürfe weder auf einem christlichen noch muslimischen Friedhof beerdigt werden. Seitdem werden auf den Demonstrationen säkularer Gruppen in Beirut Schilder für die Zivilehe und die Rechte von Sukkariyah und Darwish mitgeführt. Die antikonfessionelle Bewegung sieht sich im Aufwind. Tatsächlich befürwortet auch eine Mehrzahl der Abgeordneten im Parlament die Zivilehe. Die Debatte ist längst überfällig. Der Ta’if-Vertrag, der den von 1975 bis 1990 währenden Bürgerkrieg beendete, verlangt, den Konfessionalismus schrittweise abzuschaffen. Sollte er zurückgedrängt werden, hätte das Vorbildwirkung für die ganze Region, in der konfessionelle Gräben derzeit an Bedeutung gewinnen. Doch das ist Zukunftsmusik. Solange die Libanesen über den Sinn des Konfessionalismus debattieren, scheint eine Ausweitung konfessioneller Kämpfe aber zumindest unwahrscheinlich.