Die Schließung des griechischen Senders ERT

Nach Sendeschluss

In Griechenland hat das höchste Verwaltungsgericht den Weiterbetrieb des vergangene Woche geschlossenen öffentlich-rechtlichen Senders ERT angeordnet. Die Spannungen haben vorerst abgenommen, doch die Konflikte in der Regierungskoa­lition und der Unmut der Bevölkerung bleiben groß.

Es herrschte eine merkwürdige Stille in Griechenland, als am 11. Juni spätabends das Bild des staatlichen Fernsehsenders ERT plötzlich einfror und in einem kleinen Kästchen der Hinweis »No Signal« auftauchte. »Als der Bildschirm schwarz wurde, hatte ich das Gefühl, als ob Krieg ausgebrochen sei oder ein Putsch stattgefunden hätte. In dieser halbfaschistischen Stimmung, die in den letzten Monaten wegen des Erstarkens der Neonazi-Partei Chrysi Avgi in Griechenland geherrscht hat, kommt jemand und zieht den Stecker raus. Es ist erschreckend«, sagt Maria. Die 40jährige hat schon lange an keiner Demonstration mehr teilgenommen. Sie muss überdurchschnittlich viel arbeiten, um ihre Arbeitsstelle nicht zu verlieren und die diversen Steuern und Rechnungen zu zahlen. Aber diesmal will auch sie auf die Straße gehen.
So wie Maria dachten viele Griechinnen und Griechen, die abrupte Abschaltung ging ihnen zu weit. Bei den Älteren wurden Erinnerungen an die griechische Militärdiktatur wach, die von 1967 bis 1974 herrschte; die Jüngeren sahen in der Entscheidung, den Sender zu schließen, ein weiteres Zeichen für den autoritären Führungsstil der Regierung, nachdem diese in den vergangenen Monaten eine Reihe von Zwangsrekrutierungen von Streikenden angeordnet hatte.

Der Regierungssprecher Simos Kedikoglou von der konservativen Partei Nea Dimokratia (ND) bezeichnete die öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehanstalt ERT als einen »typischen Fall unglaublicher Verschwendung«, um die Entscheidung der Regierung zu rechtfertigen. Der Betrieb belaste die Griechinnen und Griechen mit etwa 300 Millionen Euro im Jahr, sagte er und wies auf die niedrige Einschaltquote und die Gebühren hin, die jede und jeder für ERT zusammen mit der Stromrechnung zahlen muss. Trotzdem wandten sich bei den jüngsten Umfragen drei Viertel der Befragten gegen die Schließung von ERT. Tausende haben in den vergangenen Tagen das ERT-Gebäude im Athener Stadtteil Agia Paraskevi besucht, um ihre Solidarität mit den ehemaligen Angestellten auszudrücken und gegen die Entscheidung der Regierung zu protestieren.
Die Tatsache, dass Ministerpräsident Antonis Samaras (ND) ohne die Zustimmung seiner beiden Koalitionspartner die sofortige Schließung von ERT verkündet und den Sendebetrieb eingestellt hatte, führte zu heftigem Streit in der Koalitionsregierung. Seine Entscheidung fußte auf einem Regierungserlass. Die beiden Koalitionspartner, die Parteien Panhellenische Sozialistische Bewegung (Pasok) und Demokratische Linke (Dimar), setzten sich zwar für eine Reform der öffentlich-rechtlichen Medien ein, nicht aber für deren Schließung. Einzig die neonazistische Partei Chrysi Avgi stellte sich in einer Stellungnahme auf die Seite von Nea Dimokratia.
Immer mehr sprach dafür, dass es vorgezogene Neuwahlen geben könnte. Die Koalition, kaum ein Jahr im Amt, drohte auseinanderzubrechen. Die größte Oppositionspartei Syriza forderte bereits Neuwahlen. Beobachter befürchteten sogar eine mögliche Koalition von Nea Dimokratia mit den Neonazis oder die Bildung einer Minderheitsregierung mit deren Unterstützung, falls wieder gewählt werden sollte.

Am Montag – genau ein Jahr nach den letzten Wahlen – kam die Regierungskoalition zu einer Krisensitzung zusammen. Noch bevor die Sitzung zu Ende ging, wurde die Entscheidung des höchsten griechischen Verwaltungsgericht bekannt gemacht, das die Schließung von ERT für nichtig erklärte. In einer einstweiligen Verfügung ordnete das Gericht am Montagabend den Weiterbetrieb an, bis über eine Neuordnung des staatlichen Rundfunks entschieden sei. Die Entscheidung fiel nach einem Eilantrag der Gewerkschaft der ERT-Beschäftigten, Pospert.
Bei der Krisensitzung einigten sich die Koalitionspartner auf einen Neubeginn ihrer Kooperation. Wichtig sei jetzt, dass die Regierung wie eine »echte Koalition arbeite und nicht so, als wäre sie eine Einparteienregierung«, sagte der Vorsitzende der Pasok, Evangelos Venizelos. Griechischen Medienberichten zufolge soll es bis spätestens Anfang Juli eine Regierungsumbildung geben. Am Montagabend versammelten sich Tausende Anhängerinnen und Anhänger von Syriza vor dem Parlament. »Ihre politische Zeit ist zu Ende gegangen«, richtete sich der Vorsitzende Syrizas, Alexis Tsipras, in seiner Rede an Minsiterpräsident Samaras und warf ihm vor, Griechenland mit seiner Entscheidung zu ERT international bloßgestellt zu haben. In dieser Woche wollen sich die Parteivorsitzenden der Koalition erneut treffen und einen neuen Plan für ERT diskutieren. Am Ende soll ein kleinerer Sender stehen, mit dem Samaras ursprünglich ERT ersetzen wollte. Überraschend strahlte bereits am Montag zum ersten Mal die vom Regierungssprecher angekündigte neue Anstalt mit den Namen Nerit ein Signal aus.

Trotz der klaren Botschaft aus dem Verwaltungsgericht blieb der Bildschirm auf dem ERT-Sendeplatz am Dienstagmorgen aber immer noch schwarz und die Zukunft des ERT-Personals beim neuen Sender ungewiss. Der griechische Finanzminister Giannis Stournaras sagte, dass ERT so bald wie möglich wieder geöffnet werde. Die Demokratische Linke und die Pasok fordern eine sofortige Inbetriebnahme des Senders. Die Journalistinnen und Journalisten, die sich bislang weigerten, ihre Arbeitsstellen zu verlassen, sendeten dank einer einmaligen Piratenaktion über das Internet weiter. Einen Tag nach der Einstellung des Programms besetzten sie das Gebäude in Agia Paraskevi. Über technische Umwege und das Internet strahlten sie Tag und Nacht ihr Protestprogramm aus. In den Studios wurde über die Entscheidung der Regierung und die Reaktionen im In- und Ausland gesprochen, aber es gab auch kritische Diskussionen über die Gestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Griechenland und Gespräche mit NGOs sowie Vertreterinnen und Vertretern politischer Initiativen, die bisher wenig Platz bei ERT hatten. Die Unterstützung dieser Initiative von Seiten der Bürgerinnen und Bürger und der Oppositionsparteien war groß – trotz der Kritik, die seit Jahren an der Einstellungspraxis bei ERT geübt wurde. Über Jahrzehnte haben politisch motivierte Postenbesetzungen die Personalkosten des Senders anschwellen lassen.
Die Journalistengewerkschaften des Landes haben nach der Schließung zunächst wiederholt zu Streiks aufgerufen. Am Donnerstag voriger Woche kam es zu einem 24stündigen Generalstreik, an dem sich unter anderem Beschäftigte des Personenverkehrs und Staatsangestellte beteiligten. Beeindruckend waren die Reaktionen aus dem Ausland, die Samaras unter großen Druck setzten. Die Europäische Rundfunk-Union (EBU) appellierte in einem offenen Brief an den griechischen Ministerpräsidenten, die Schließung des EBU-Gründungsmitglieds ERT rückgängig zu machen, und sorgte am Donnerstag voriger Woche dafür, dass ERT wieder über Satellit erreichbar ist. Am Montag kritisierte die EBU, dass die griechische Regierung mit rechtlichen Schritten gegen Satellitenbetreiber vorzugehen drohe, die ERT nach Europa und Asien übertragen.
Die Abteilung Medien und Kommunikation der Universität Athen wies darauf hin, dass ERT der einzige griechische Sender war, der eine staatliche Sendeerlaubnis hatte. Für die Privatsender hat es nie eine offene Ausschreibung um die Frequenzen gegeben. Die Frequenzen wurden seit 1989 einfach von den Besitzern der Privatsender besetzt. Die privaten Fernseh- und Radiostationen senden also ohne staatliche Genehmigung, verfügen aber über einen vorläufigen Duldungsstatus, der seit mehr als zwei Jahrzehnten von der jeweiligen Regierung gewährt wird. Nach Einschätzung von Beobachtern haben die privaten Sender gegenüber dem griechischen Staat seit 1995 inzwischen über 500 Millionen Euro Mietschulden für die Nutzung der Frequenzen angesammelt. »Durch das Einstellen von ERT wird die Willkürmentalität belohnt, unter der wir alle seit Jahren leiden«, hieß es von Seiten der Universität.