Der Prism-Skandal im Wahlkampf

Ein Angriff auf die Deutschen

Wenn es um den Prism-Skandal geht, ­erklingen in der deutschen Politik auch nationalistische Töne. Schließlich wird bald ein neuer Bundestag gewählt.

Da hatte es ein Brandenburger Milchmädchen weit gebracht und war doch stets bescheiden geblieben. Schon an der Oberschule der heimatlichen Kreisstadt hatte es seine Bildungschance durch gesellschaftliches Engagement entgolten: Als Sekretärin für Agitation und Propaganda der Freien Deutschen Jugend (FDJ) warnte es seine Mitschüler vor den Machenschaften des USA-Imperialismus. Als Physikstudentin an die Univer­sität der zweitgrößten Stadt ihres kleinen Landes entsandt, setzte das Mädchen aus Templin seine Aufklärungsarbeit fort und auch das politische Engagement der jungen Doktorandin an der großen Universität der Hauptstadt war Zeugnis ihrer Anstrengungen.

Als dann die große Wende das kleine Land verschlang und als Teil eines viel größeren wieder ausspuckte und die einstige Hauptstadt des kleinen Landes, um ein Beträchtliches ihres Territoriums erweitert, als Hauptstadt eines großen wiedererstand, da erspähten die Blicke der Geschichte das Milchmädchen aus Brandenburg nicht in den Reihen der Murrenden, sondern auf der Seite der Anpackenden. Als frischgebackene Christdemokratin machte die Templinerin dem elter­lichen Pfarrershaus ebenso alle Ehre wie dem großen Land, dem sie fortan als Politikerin diente. Das Credo der FDJ, »gegen Imperialismus und Krieg, für Frieden, nationale Unabhängigkeit und gesellschaftlichen Fortschritt«, hatte sie dabei nie vergessen. Und als sie dann Bundeskanzlerin war, da leuchteten ihre Augen gleich denen der jungen Leute, aus deren Kehlen ein gemeinschaftliches »Schland« entfuhr, als das große Land sich anschickte, Weltmeister des Fußballs, der Herzen und der Exporte zu werden.
Das Brandenburger Milchmädchen war 59 Jahre alt geworden, als es sich einer großen Wochenzeitung mitteilte, die in Schland als Pflichtlektüre der Gebildeten gilt. Bevor der Strudel der großen Wende das kleine Land verschlang, hatte das Mädchen einmal im Jugendradio DT 64 die Rolling Stones mit »You can’t always get what you want« gehört. Das hatte ihr damals viel zu denken gegeben. Heute offenbart sie die Früchte ihres Grübelns, das keineswegs nur um sie selbst, sondern auch um die anderen, ja die ganze Welt kreist: » … Wir sind, wie wir sind, und andere sind, wie sie sind.« So ist das nun mal. Dennoch ist die Welt anders geworden als sie einmal war: »Es sind neue Möglichkeiten hinzugekommen, wie ich mich an die Menschen wenden kann: per Video-Podcast, mit einem Google-Hangout oder einem Online-Dialog, der über viele Wochen gehen kann.« Kein Vergleich zu den technisch bescheidenen Agitprop-Materialien einer FDJ-Sekretärin. »Dafür verbreitet sich heute alles viel schneller, im Guten wie im Schlechten. Wenn man sich verspricht, wenn man etwas Lustiges macht, eine komische Bewegung (…). Jedenfalls rast es per Internet in einer unglaublichen Geschwindigkeit durchs Land.« All das sagte sie vor kurzem der Zeit.
Echt toll, so ein Leben und Regieren im elektronischen Wunderland. Alles könnte gut sein, auch die notorische Faulheit könnte Schland diesen Südeuropäern bald austreiben. Schließlich hat die Kanzlerin eine Vision, eine europäische Vision. Doch da ist noch etwas, irgendetwas Wichtiges, das sie vergessen hat. Immer, wenn es ihr gut gehen könnte, meint die Templinerin etwas Wichtiges vergessen zu haben. Wie war das noch, damals mit dem US-Imperialismus? Da pocht es unheilverkündend an der Tür. Einlass begehrt der Führer der parlamentarischen Opposition. Mit der versteinerten Miene und der grabesbitteren Stimme eines Dämons der Nemesis verkündet er Anklage und Bannfluch zugleich: »Frau Merkel, Sie haben Ihren Amtseid gebrochen!«

Schluss jetzt! Das Personal des deutschen Possenstückes »NSA-Affäre« mit Ironie, gar satirischer Verzerrung und Übertreibung zu skizzieren, ist blamabel angesichts der tatsächlichen Dummheit der Akteure und ihrer unfreiwilligen Komik, die eine solche kaum noch ist, weil diese Leute wohl wirklich so sind, wie sie reden. Wie der Tagesspiegel vergangene Woche berichtete, produzierte der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Peer Steinbrück in seiner Anklageschrift gegen die törichte Kanzlerin folgendes: »Auf Disketten gespeichert, würde sich die abgesaugte Datenmenge der NSA bis hinter die Sonne stapeln.« Man kann so einen verrückten Satz nicht wirklich verstehen, aber bestaunen kann man ihn schon. Oder: »Sogar abgesehen von den Gefahren der wirtschaftlichen und politischen Spionage ist somit Schaden am deutschen Volk entstanden, und zwar systematisch und flächendeckend.« Wer die Deutschen immer schon ziemlich merkwürdig gefunden hat, weiß nun, sie sind Fläche, die man deckend und systematisch schädigen kann. Gut zu wissen.
Überhaupt hat es Steinbrück mit dem Systematischen, nur nicht in der Grammatik: Es werde bekannt, »wie systematisch Geheimdienste Grundrechte in Deutschland verletzt haben«. Wie systematisch? Na, so systematisch. Oder sehr systematisch. Adjektiv oder Adverb? Egal, wenn’s um Deutschland geht: »Die scheibchenweise Reaktion der Bundesregierung lässt bislang nur eine von zwei Schlussfolgerungen zu.« Die Reaktion erfolgt also nicht scheibchenweise, sie ist scheibchenweise. Wenn eine Reaktion nur eine Schlussfolgerung zulässt, welche Bedeutung hat dann die Erwähnung einer zweiten? Dumme Frage, Syntax und Satzlogik sind sowieso nur was für intellektuelle Spinner. Wer sein Vaterland liebt, darf die Muttersprache misshandeln.
Und ein Vaterländischer ist der Steinbrück allemal. Dem Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) wirft er »Eilfertigkeit« vor, denn dieser habe sich in »Washington durch die windelweichen Erklärungen der US-Administration abspeisen lassen«. Dies habe »weniger mit Freundschaft als mit Gehorsam zu tun«. So erweist sich der Kanzlerkandidat nach mancher Anlaufschwierigkeit dann doch als sozialdemokratisches Urgestein in bester deutsch-nationaler Tradition: Schon in den fünfziger Jahren sah sich der Nationalist Konrad Adenauer (CDU) außerstande, eine Attacke des Ultranationalisten Kurt Schumacher (SPD) zu parieren, als dieser mit der Anklage, Adenauer sei »nicht Kanzler des deutschen Volkes, sondern Kanzler der Alliierten« aufwartete. Das hatte gesessen, das zahlte sich in Wählerstimmen aus.

So soll es auch am 22. September wieder sein. Dass diese Kalkulation aufgehen könnte, belegen Anzeichen aus der Partei »Die Linke«, die von manchen als die echte Sozialdemokratie, von anderen als deren Light-Version wahrgenommen wird. Die Zeitung Neues Deutschland, zu Beginn des gesellschaftlichen Engagements der derzeitigen Bundeskanzlerin deren wesentliche Inspirationsquelle und derzeit das Hausorgan der »Linken«, hatte sich bis Mitte Juli jeglicher nationalistischer Kommentierung der geheimdienstlichen Überwachungen enthalten. Doch am 17. Juli erschien auf der Titelseite ein Kommentar, der, nicht zuletzt aufgrund seiner pittoresken Argumentation, zu denken gab. »Dass der Überwachungsskandal«, hieß es da, »nun endlich Chefsache sein sollte, hat nicht nur damit zu tun, dass die Regierung einer angeblich befreundeten Nation die Grundrechte von uns Deutschen angegriffen hat.« So weit, so bescheiden. Doch es geht um mehr, denn: »Der Skandal ist global.« Und daraus folgt Unangenehmes für Barack Obama: »Also muss er vor die UN-Generalversammlung kommen. Schon weil es viele Millionen Betroffene gibt, die noch machtloser dastehen als die EU-Europäer.« Das war verblüffend. Denn eher hätte man sich vorstellen können, dass aus dem Ruder gelaufene Grüne in der Taz Obama zu einer Art »Serbenführer des Internet« erklären und seine Überstellung an das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag fordern.
Zudem wusste der Autor des Neuen Deutschland, dass alle Parteien hierzulande dick mit drin stecken: »(…) auch verantwortliche SPDler und Grüne hätten es längst in der Hand gehabt, das Thema aufzurufen.« Er vergaß nur, die eigene Hauspartei zu erwähnen. Die FAZ hatte ebenfalls am 17. Juli das ehemalige Mitglied der »Linken« im sogenannten Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags, Wolfgang Nešković, hinsichtlich des Verhältnisses »zwischen Kontrolleuren und zu Kontrollierenden« zitiert: »Das Entscheidende ist, dass wir keine Möglichkeit haben, tatsächlich zu überprüfen, ob das, was sie uns sagen, wahr ist.« Trotzdem blieb der Mann bis zu seinem Zerwürfnis mit der Linksfraktion auf seinem Stuhl kleben. Den Herrschaften die Komplizenschaft aufzukündigen, wäre wohl nicht sozialdemokratisch gewesen.
Auf Neškovićs Stuhl klebt nun Steffen Bockhahn von der Linkspartei und ist schwer empört, wie er dem Neuen Deutschland anvertraute: »Wie sollen einzelne Bürger sich gegen die Allmacht einer 38 000-Mann-High-Tech-Spionageorganisation wehren?!« Vielleicht mit Blauhelmen, entsandt von der UN-Generalversammlung. Besser noch, bei jedem Telefonat, bei jedem Internetbesuch setzt jeder sich selbst einen Blauhelm auf. Jedes »Absaugen« von »Datenmengen« wäre dann nicht nur ein Verbrechen an den Deutschen, sondern ein flagranter Bruch des Völkerrechts.