Über Altersarmut bei Migranten

Eure Armut macht uns reich

Migranten sind überdurchschnittlich von Altersarmut betroffen.

Er ist der bekannteste Arbeitsmigrant Deutschlands, auch wenn kaum jemand seinen Namen kennt: Armando Rodrigues de Sá. Das Bild des hageren portugiesischen Zimmermanns auf dem zweisitzigen Moped der Marke Zündapp gehört zum kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik. Das Moped, das er bei seiner Ankunft in Köln im September 1964 geschenkt bekam, steht heute im Haus der Geschichte in Bonn. Durch blindes Tippen auf eine Liste mit Namen hatte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ihn zum »millionsten Gastarbeiter« erklärt. Für die Leute, die in den fünfziger und sechziger Jahren die Anwerbeabkommen mit Portugal, Italien, der Türkei und anderen Staaten ausgehandelt haben, dürfte Armando Rodrigues de Sá ein Gastarbeiter ganz nach ihren Vorstellungen gewesen sein. Er lebte sparsam in einer Baracke mit acht Betten und schickte fast sein ganzes Geld nach Hause. Sechs Jahre arbeitete er hart, dann ging er nach Portugal zurück – aus Gesundheitsgründen. Er brauchte fast seine ganzen Ersparnisse für Arztbesuche, Klinikaufenthalte und Medikamente gegen Magenkrebs auf. Als er 1979 starb, nahm in Deutschland davon niemand Notiz. Die meisten der euphemistisch Gastarbeiter Genannten haben wie er anspruchslos gelebt. Als der westdeutsche Staat sie in den achtziger Jahren mit Rückkehrerprogrammen in Massen aus dem Land bequemte, ließen sich bei weitem nicht alle ihre Einzahlungen in die gesetzliche Renten­versicherung auszahlen.

Andere blieben und erwarben Rentenansprüche, allerdings geringe. Armando Rodrigues de Sá wäre heute 75 Jahre alt und seit vielen Jahren Rentner – und, wäre er in Deutschland geblieben, sehr wahrscheinlich arm. Nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung sind Migranten deutlich häufiger von Altersarmut betroffen als andere Bürger. »Nach einem Leben voller Arbeit droht den ehemaligen Gastarbeitern die Altersarmut«, resümiert Eric Seils, Sozialexperte der Hans-Böckler-Stiftung. Seils hat die Daten aus dem Mikrozensus, dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) und der Haushaltsbefragung EU-SILC ausgewertet und ist zu bestürzenden Ergebnissen gekommen. Danach waren im Jahr 2011 41,5 Prozent der Ausländer von Altersarmut bedroht. Als armutsgefährdet gilt, wer als Alleinstehender weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat, das sind 848 Euro. Gegen die Altersarmut gibt es eigentlich die Grundsicherung – eine Art Hartz IV für Senioren. Von den älteren Ausländern mussten 12,7 Prozent Leistungen der Grundsicherung beantragen, bei den Deutschen waren es nur 2,1 Prozent. Die Rentenlücken bei vielen Zuwanderern sind groß. Das liegt in der Natur der Migration. Rodrigues de Sá hätte bei seiner Ankunft nur noch 39 Jahre bis zur Rente arbeiten können. Im Vergleich zu gleichaltrigen deutschen Kollegen hätten ihm für eine gute Rente in Deutschland einige Jahre gefehlt, die er nicht hätte aufholen können.

Nicht für die Gastarbeiter, aber für andere Zuwanderer hatte die Politik das Problem dieser Fehlzeiten gelöst. Die gesetzliche Rentenversicherung kannte über Jahrzehnte Migranten erster und zweiter Klasse. Denn wer als »deutschstämmiger« Aussiedler nach Deutschland kam, fiel unter das Fremdrentengesetz. Aussiedler konnten die woanders verbrachten Arbeitsjahre geltend machen – unabhängig davon, ob sie Beiträge dafür entrichtet hatten oder nicht. Die Arbeit des Kolchosenbauers aus der Ukraine erkannte die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland an, die des Bauern aus Anatolien nicht. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Leistungen für Aussiedler allerdings extrem eingeschränkt.
Wie hoch die Bezüge im Alter ausfallen, hängt von den im Laufe des Erwerbslebens gesammelten Rentenpunkten ab. Wer im Laufe eines Jahres genau das durchschnittliche Einkommen erzielt, dem schreibt die gesetzliche Rentenversicherung einen ganzen Rentenpunkt gut. Wer die Hälfte des Durchschnittseinkommens hat, bekommt einen halben Rentenpunkt, wer mehr hat, einen höheren Rentenpunktwert. Im Jahr 2013 erhält einen ganzen Rentenpunkt, wer 34 071 Euro verdient. 1960 entsprach ein Rentenpunkt 6,34 DM, 2013 sind es in Ostdeutschland 25,74 Euro und in Westdeutschland 28,14 Euro.
Für die Höhe der Rente ist also nicht nur das absolute Einkommen, sondern vor allem das Verhältnis zum Durchschnittseinkommen wichtig. »Kennzeichnend für die Einkommenssituation der älteren Personen mit Migrationshintergrund ist das asymmetrische Verhältnis von längerer Erwerbsarbeit und geringerem durchschnittlichen Einkommen«, heißt es in einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung für das Bundesarbeitsministerium. »Der Grund für das geringer ausfallende Durchschnittseinkommen ausländischer Arbeitnehmer liegt in der sektoralen Verteilung der Arbeit, wie nahezu alle Studien belegen. Die ausländischen Arbeitnehmer waren überproportional häufig als Hilfsarbeiter tätig, verbunden mit einer generell geringeren Bezahlung, während Deutsche in höhere Positionen aufsteigen und bessere Verdienste erzielen konnten.« Sie verrichteten jene Arbeiten, die bei den Deutschen als zu gefährlich, zu gesundheitsgefährdend, zu kräftezehrend galten oder einen schlechten Ruf hatten.
Ausländische Arbeitnehmer wurden auch als erste gefeuert, als viele Industriearbeitsplätze abgebaut wurden. Arbeitslosigkeit schlägt auf die Rente voll durch. Die durchschnittliche Rente eines Zuwanderers lag 2011 bei 811 Euro im Monat. Und die Lage wird nicht besser: Senioren mit ausländischer Herkunft, die im Jahr 2011 in Rente gegangen sind, bekamen nur noch 623 Euro – das ist weniger als die Grundsicherung, die bei 698 Euro liegt. Deutschstämmige Rentner bekommen etwa ein Drittel mehr.
Für Frauen ist die Lage in der Regel noch viel schlechter, weil sie im Vergleich zu Männern ihrer Generation oder Herkunft weniger verdienen. Das können auch Rentenpunkte, die es für Erziehungszeiten gibt, nicht kompensieren.

Eine Trendwende für Zuwanderer ist nicht in Sicht. Mehr als jeder zweite Migrant arbeitet im Niedriglohnsektor, wird also im Alter darben. Auch mit Hinweis darauf fordern die Gewerkschaften und die Parteien links der Mitte einen Mindestlohn. Doch das reicht nicht. »Die Einführung einer Solidarischen Mindestrente von 1050 Euro im Monat zur Bekämpfung von Altersarmut ist lange überfällig«, sagt die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Sevim Dağdelen, angesichts der Ergebnisse der Böckler-Studie. Auch SPD und Grüne haben Konzepte für eine Mindestrente, die allerdings eher an die bestehende Grundsicherung erinnern.
Dank der rot-grünen Rentenreform von 2002 werden Einkommen, die in der ersten Zu­wanderergeneration noch zu einer ausreichenden Rente geführt hätten, auch für deren gut ausgebildete Kinder und Enkel nicht genug Einkünfte im Alter bringen. Die Kürzung der Rentenansprüche trifft fast immer Menschen mit ausländischer Herkunft härter als deutschstämmige, weil sie noch immer weniger verdienen und schlechte Aufstiegschancen haben. Außer vielleicht in der Finanzindustrie.
Banken und Versicherer haben Migranten und ihre Rentenlücke als Geschäftsfeld entdeckt. Die Allianz, die Deutsche Bank und andere haben spezielle Geschäftsmodelle etwa für türkischsprachige Menschen entwickelt – wofür sie Leute aus der Zielgruppe selbst brauchen. So werden Menschen mit Migrationshintergrund gleich zweimal ausgebeutet: Erst als billige Arbeitskräfte und dann als Kunden mit Rentenlücke, die mit ihren Beiträgen für die private Altersvorsorge Banken und Versicherungen noch reicher machen.