Leyla Troncoso Pérez und Hillary Hiner im Gespräch über die Proteste gegen das Abtreibungsverbot in Chile

»Abtreibung bleibt ein Tabuthema«

Chile ist eines der wenigen Länder der Welt, in denen ein Schwangerschaftsabbruch in jedem Fall verboten ist. Für Aufsehen ­sorgte im Juli der Fall der 11jährigen Belén, die vom Freund ihrer Mutter jahrelang vergewaltigt und in der Folge schwanger wurde. Am 25. Juli demonstrierten Zehntausende in der Hauptstadt Santiago für das Recht auf weibliche Selbstbestimmung und Abtreibung. Die Jungle World sprach mit den Feministinnen Lelya Troncoso Pérez und Hillary Hiner über die Proteste und die Abtreibungsdebatte in Chile. Troncoso ist Sozialpsychologin und Mitglied des ­Colectivo Universitario por la Disidencia Sexual (Universitäres Kollektiv für sexuelle Dissidenz, CUDS). Hiner ist Dozentin für Geschichte und im Organisationskomitee der »Encuentros Feministas« (Feministische Begegnungen).

Der Fall Belén scheint die Proteste gegen das Abtreibungsverbot in Chile belebt zu haben. Oder gab es andere Gründe dafür, dass der Widerstand derzeit zunimmt?
Troncoso: Viele feministische und queere Bewegungen haben kleine Kampagnen zum unbe­dingten Recht auf Abtreibung gemacht, aber sie hatten nie eine größere Sichtbarkeit. Der Fall ­Belén hat die Artikulation verschiedener feministischer Bewegungen angeregt. Das sahen wir auch ein wenig bei der Demonstration für das Recht auf Abtreibung Ende Juli, an der rund 10 000 Menschen und verschiedene feministische Gruppen teilnahmen, die sich sonst wenig untereinander austauschen, außerdem demonstrierten auch ziemlich viele Männer. So eine breite und große Demonstration, die sich offen für ­Abtreibung ausspricht, gab es zum ersten Mal.
Der Fall Belén hat insbesondere die Debatte in den Medien angeregt und international auf den Konservatismus in Chile aufmerksam gemacht. Das ist sehr interessant, da Abtreibung in Chile ein Tabuthema bleibt. Problematisch ist nicht nur die Kriminalisierung, sondern der hegemoniale Diskurs, demzufolge Abtreibung als Mord gilt und der tief in der katholischen Kultur Chiles wurzelt. Deswegen hat man nur vorsichtig über die »therapeutische Abtreibung« diskutiert, nicht über ein unbedingtes Recht auf Abtreibung. Nicht einmal der Fall Belén bewog die Regierung dazu, das Gesetz zu überdenken.
Hiner: Ich denke, dass wir auch beachten müssen, dass in Chile gerade Wahlkampf ist. Im Juni gab es Vorwahlen und im November steht die erste Runde der Präsidentschaftswahlen an. Das ist wichtig, da in diesem Kontext bereits über das Thema Abtreibung geredet wurde, vor allem, um Unterschiede zwischen den zwei wichtigsten politischen Bündnissen – dem Mitte-Links-Bündnis Nueva Mayoría (Neue Mehrheit), das früher »Concertación« hieß, und dem Mitte-Rechts-Bündnis Allianza – und zwischen den Präsidentschaftskandidaten zu markieren, darunter die ehemalige Präsidentin Michelle Bachelet.
Während ihrer vierjährigen Präsidentschaft hat Bachelet weder ein Gesetz noch ein Programm zur Abtreibung vorgelegt, was angesichts des Tabus nicht verwundert. Dennoch, als sie sich unter Druck diverser feministischer Gruppen sowie anderer, progressiverer Kandidaten aus ihrem Bündnis sah, fing sie an, offener über die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung zu reden, und unterstützte öffentlich die »therapeutische Abtreibung«. So wurde das Thema in letzter Zeit öfter in den Medien debattiert, mit dem Fall Belén nahm dies noch zu. Trotzdem sind die Proteste nicht nur im genannten Kontext zu sehen, sie haben auch mit dem Ausbruch der sozialen Bewegungen und den Straßenprotesten in Chile in den vergangenen Jahren zu tun.
Unterstützen viele Chileninnen und Chilenen die Position der Regierung und des Präsidenten Sebastián Piñera, der meinte, eine 11jährige sei als Mutter geeignet, und der stets das »ungeborene Leben« verteidigen will?
Hiner: Das sind hauptsächlich die Religiösen und die Rechten. Dabei muss man noch zwischen den Ultrarechten, die komplett gegen Abtreibung sind, und Menschen mehr aus der »Mitte« ­differenzieren, die eine »therapeutische Abtreibung« unterstützen. Einer Umfrage der Corporación Humanas von 2012 zufolge sind 75 Prozent der Befragten für eine Abtreibung, falls das Leben der Mutter in Gefahr ist. Und einer Umfrage von Miles von 2013 zufolge sind 67 Prozent der Chileninnen und Chilenen für eine Abtreibung nach einer Vergewaltigung.
Troncoso: In Fällen des sexuellen Missbrauchs gibt es, wie bei Belén, mehr Empathie mit der Schwangeren. Eine Frau, die abtreiben will, aber nicht vergewaltigt wurde, wird hingegen fürchterlich verteufelt. Sie gilt als promisk und als Hure.
Hiner: Es fehlt immer noch viel, um ein Frauenbild ohne aufgezwungene und naturalisierte Mutterschaft zu konzeptualisieren. Hier gibt es viele Dinge, die die Diskussion über die Kontrolle der Frau über ihren eigenen Körper erschweren: das völlige Fehlen von Sexualerziehung, weder grundlegend noch sexpositiv, der alltägliche Zwang der Heteronormativität und das überwältigende Maß an Homo- und Transphobie, und schließ­lich der eingeschränkte Zugang zum Gesundheitssystem und zu Verhütungsmitteln auf der Basis von Klasse, ethnischer Herkunft und Hautfarbe in Chile.
Kürzlich hat sogar das katholische Irland ein Gesetz verabschiedet, das einen Schwangerschaftsabbruch in Fällen erlaubt, in denen das Leben der Schwangeren gefährdet ist. Bis 1989 war diese »therapeutische Abtreibung« auch in Chile erlaubt. Doch in den letzten Monaten der Diktatur hat Augusto Pinochet jedwede Form von Abtreibung verboten. Warum hat das Mitte-Links-Bündnis Concertación, das nach dem Ende der Diktatur 20 Jahre lang regierte, es nicht geschafft, das Gesetz zu ändern?
Troncoso: Abtreibung ist ein so starkes Tabuthema, dass nur wenige Politikerinnen und Politiker es gewagt haben, es überhaupt anzusprechen. Für Bachelet war das nie ein Thema, nur die »Pille danach«, und bereits das war ein Skandal. Man hat nie ernsthaft versucht, Abtreibung zu entkriminalisieren. Die katholische Kirche hat weiterhin große Macht in Chile. Und während der Diktatur von Pinochet gab es einen großen Rückschritt bezüglich dieser Themen. In der Diktatur herrschte ein sehr konservativer Diskurs bezüglich der Familie und der Rolle der Frau als Ehefrau und Mutter. Heute ist immer noch die gleiche Rechte an der politischen Macht.
Hiner: Dem Konservatismus zugrunde liegen die Macht der katholischen Kirche, wie in Irland, und das binominale Wahlsystem, das unter der Diktatur mit der Verfassung von 1980 eingeführt wurde und auf sehr undemokratische Weise den Platz der Rechten in der Politik stärkt. Innerhalb der Concertación spielte die Christdemokratische Partei (PDC), eine katholische zentristische Partei, die gegen Abtreibung ist, eine wichtige Rolle. Zwischen 1990 und 2000 kamen nicht nur die Präsidenten Patricio Aylwin und Eduardo Frei Ruiz-Tagle aus dem PDC, sondern auch die Mehrheit der Abgeordneten und Senatoren der Concertación. Diese Tendenz nahm nach 2000 ab, obgleich der PDC eine wichtige Partei blieb.
Bei den Vorwahlen des oppositionellen Parteienbündnisses Nueva Mayoría im Juni sahen wir, dass der christdemokratische Kandidat, Claudio Orrego, der Abtreibung bei jedem öffentlichen Auftritt kategorisch ablehnte, nur auf den dritten Platz kam, hinter Bachelet – der Kandidatin der Sozialisten, des sozialdemokratischen PPD und der Kommunisten – und dem unabhängigen Kandidaten Andrés Velasco, die öffentlich die »therapeutische Abtreibung« unterstützten. Der viertplazierte José Antonio Gómez, Kandidat des sozialliberalen PRSD, unterstützt diese ebenso und brachte im März sogar einen diesbezüglichen Gesetzesvorschlag in den Senat ein.
Michelle Bachelet hat gute Chancen auf die Präsidentschaft. Denken Sie, dass mit ihr ein Wandel der Politik möglich wäre oder braucht es dafür radikalere Positionen?
Troncoso: In der feministischen Bewegung gibt es diesbezüglich gegensätzliche Ansichten. Viele von uns denken, dass es nötig ist, nur von der unbedingten Abtreibung zu sprechen, die »therapeutische Abtreibung« ist kein Ziel, das wir erreichen möchten. Ich persönlich denke, dass der Diskurs darum weiterhin konservativ, machistisch und sexistisch ist. Die Frau wird nur in ihrer Funktion als Opfer gesehen, die Frau, die Mitleid braucht, weil sie sexuell missbraucht wurde, oder deren Leben in Gefahr ist. In dieser Debatte hat eine Frau, die Kontrolle über ihren Körper, ihre Sexualität und ihre Wünsche hat, die vielfältig und widersprüchlich sein können, keinen Platz.
Aber wir werden uns auch nicht gegen die Legalisierung der »therapeutischen Abtreibung« ­stellen, die in jedem Fall besser sein kann als die momentane Situation. Ebenso wenig dürfen wir vergessen, dass viele Frauen missbraucht werden, und es ist wichtig, dass in diesen Fällen eine Abtreibung möglich ist. Ich hoffe schon, dass Bachelet etwas in dieser Hinsicht tun wird, aber sie ist keine Kandidatin, die ich persönlich unterstütze.
Hiner: Ich finde, Abtreibung in Chile betreffend, zählt alles, besonders, da es im momentanen ­politischen Kontext sehr schwierig ist, etwas durchzusetzen. In diesem Sinne wird es mit Bachelet hoffentlich einen Wandel geben, es gibt nichts zu verlieren. Aber natürlich kann die Diskussion nicht bei der »therapeutischen Abtreibung« stehen bleiben. Wir brauchen offensichtlich ­radikalere Positionen, auch wenn ich als Feministin die Idee, dass eine Frau über ihren Körper und ihre Sexualität selbst bestimmt, nicht als sonderlich radikal empfinde.
Gewinnt die feministische Bewegung in Chile derzeit an Stärke?
Troncoso: Ich denke, sie sammelt gerade Kräfte. Derzeit kommunizieren verschiedene feministische Gruppen stärker miteinander und bilden eine größere Bewegung. Ich weiss nicht, ob man schon von einer hoffnungsvollen Situation sprechen kann, in der konkrete Erfolge auf legaler Ebene erreicht werden können, aber zumindest wird die Debatte wiederbelebt. Ich denke, dass es sehr wichtig ist, dass es eine explizit feministische Bewegung für Abtreibung gibt, da Feministin zu sein auch sehr stigmatisiert wird.