Zum Fall Gustl Mollath und den Reaktionen im Internet

Der bayerische Patient

Nachdem Gustl Mollath am Dienstag voriger Woche aus der Psychiatrie in Bayreuth entlassen wurde, formierte sich in den sozialen Netzwerken ein Mob, der sich gegen jene richtete, die nicht zu Mollaths Unterstützern gezählt wurden.

Die Entlassung von Gustl Mollath aus der Psychiatrie war kaum angeordnet, da ähnelte die Stimmung in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter schon der nach einem Fußball-Derby ­gegen einen besonders verhassten Lokalrivalen. Während Freunde und langjährige Unterstützer des Bayern sich einfach nur freuten, verbreiteten andere vorrangig Häme und mehr oder weniger unterschwellige Drohungen gegen die vermeintlich Unterlegenen, also praktisch alle, die Mollath nicht uneingeschränkt als Opfer, Held und mit Preisen zu überhäufenden Whistleblower in der Tradition von Julian Assange und Edward Snowden sehen wollten, sondern eine differenzierte Betrachtung forderten.

Entsprechend dauerte es auch nicht lange, bis die umgehende Einweisung in die Psychiatrie für missliebige Politiker und Journalisten gefordert wurde, unterstützt von der kürzlich mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Satire-Webpage »Der Postillon«, die unter der Überschrift »Paranoide Wahnvorstellungen: Bayerns Justizministerin glaubt, Mollaths Freilassung sei ihr Verdienst« eine »anonyme Angehörige« erklären ließ, wie dringend Beate Merk (CSU) Hilfe brauche: »Heute morgen hat sie am Frühstückstisch eine Rede gehalten, in der sie Dank für die Beendigung des Zweiten Weltkrieges und die Erfindung der Weißwurst entgegengenommen hat.« Auch das weitere Schicksal der Spiegel-Journalistin Beate Lakotta, die am 13. Dezember vorigen Jahres zum Fall Mollath einen Artikel mit der Überschrift »Warum der Justizskandal doch keiner ist« veröffentlichte, ist für den Mollath-Mob auf Twitter klar: Psy­chiatrie oder wenigstens Jobverlust, wofür Beschwerden bei der Chefredaktion und beim Presserat sorgen sollen.
Bereits kurz nach dem Erscheinen des Artikels hatte sich das Blog »newsandbuy« mit angeblichen Auffälligkeiten befasst, die zeigen sollten, dass es sich um eine regelrechte Kampagne handele. Kaum sei der Artikel online gewesen, habe »die Stunde der neuen Gesichter in der Timeline zum Hashtag #Mollath auf Twitter« geschlagen: »Der Link zum Artikel wurde über zahlreiche Accounts in Minutenschnelle verbreitet, deren Inhaber sich zum größten Teil bis zu diesem Zeitpunkt zumindest auf Twitter in keiner Weise um den Fall Mollath gekümmert hatten.«
Dass User Links posten, die sie interessant finden, gehört zwar zum Geschäftsmodell von Twitter, aber im Fall Mollath gilt sehr häufig alles als Verschwörung, was das eigene Weltbild stört: »Ihre Arbeitsanweisung muss in etwa gelautet haben: ›Setze einen provokanten Tweet mit dem Hashtag #Mollath und verlinke auf den Spiegel-Artikel‹, so sehr ähnelten sich die neuen Nachrichten.« Sich ähnelnde Nachrichten sind eigentlich auch nichts Ungewöhnliches, weil so gut wie alle Online-Medien mittlerweile Twitter- und Facebookbuttons anbieten, mit denen Links und kurze, vorgegebene Texte gepostet werden können – aber das reicht natürlich nicht, um ein konzertiertes Vorgehen zu beweisen. »Viele der Accounts ähnelten sich auch in ihrer Struktur: Wenige Followers im Verhältnis zu der Menge abgesetzter Tweets (Beispiel: 69 Followers bei über 12 000 (!) Tweets, was aufgrund der Funktionen von Twitter schon ein Kunststück für sich darstellt)« heißt es gleichwohl weiter. »Klar: Diese Accounts dienen nicht der persönlichen Kommunikation. Wir dürfen sie als Lautsprecher betrachten, die Kraft ihrer Masse Autorität vermitteln sollen. Selbstverständlich ließ sich die überwiegende Zahl der neuen Gesichter auf keine weiterführende Diskussion ein und interessierte sich auch nicht für tatsächliche Fakten«.
Was, zieht man die damalige Aufregung der Unterstützer von Mollath über den Artikel auf Spiegel Online in Betracht, jedoch nicht unbedingt für eine sinistre Verschwörung spricht, sondern eher dafür, dass diejenigen, die die Links verbreiteten, einfach kein Interesse daran hatten, von einem aus dem Nichts erscheinenden Schwarm sehr aufgeregter Menschen mit Vorwürfen überschüttet und zur Rede gestellt zu werden. Die mangelnde Diskussionsbereitschaft könne aber, so »newsandbuy«, im Prinzip nur einen Grund haben: »Der Auftrag lautete demgemäß: Link abkotzen und raus aus der Nummer.« Und überhaupt, wer nicht die eigene Meinung teilt, kann eigentlich nur jemand sein, der dafür bezahlt wird: »Frage an alle Lautsprecher: Wie viel bekommt man für so einen Nachrichtentweet? Zwei Euro? Oder auch fünf Euro? Lohnt sich das Geschäft tatsächlich? Oder handelt es sich um Praktikantenjobs mit unsicheren Aussichten und mieser Bezahlung?«

Auch gegen andere gingen Nutzer sozialer Netzwerke mit den üblichen Mitteln vor. Die Doktorarbeit von Klaus Leipziger, Chefarzt der Forensischen Psychiatrie im Bezirkskrankenhaus Bayreuth und zentraler Gutachter im Fall Gustl Mollath, wurde mittlerweile auf Plagiate untersucht. Am 2. August erstattete Martin Heidingsfelder, Mitglied der Piratenpartei und Gründer der Online-Plattform Politplag, bei der Universität Ulm Anzeige wegen Plagiatsverdachts – die bei Politplag gesammelten Stellen sind bislang allerdings nicht sehr zahlreich und es handelt sich nicht um eindeutige Plagiate wie in anderen, spektakulären Fällen. Was in den Unterstützerkreisen für Mollath über Leipziger gedacht wird, fasst ein Kommentar unter einem Blogpost zusammen: »Sollte Dr. Leipziger vorsätzlich und in gezielter Absicht (Vertuschungsauftrag) gehandelt haben, dann bleibt zu sagen, ›kaum anders oder besser wie die Mengeles‹.«
Insgesamt interessieren sich bis heute jedoch wohl weit weniger Menschen für den Fall Mollath, als dessen Unterstützer annehmen: Eine bereits am 6. Juli initiierte Petition mit der Forderung nach dem Rücktritt der bayerischen Justizministerin konnte von der Freilassung Mollaths beispielsweise nicht profitieren. Bis Montag dieser Woche unterzeichneten lediglich 4 200 Personen den Aufruf. Zuvor hatte eine Petition, in der Freiheit für Mollath sowie die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gefordert wurde, 6 810 Unterschriften erhalten.

Dabei war Mollaths Freilassung sogar per Live­stream verbreitet worden, wie das mittlerweile üblich ist. Zwei bayerische Mitglieder der Piratenpartei, einer davon Bundestagskandidat, übertrugen das Warten auf den aus der Psychiatrie Entlassenen live. »Während Sat 1 noch auf seine Schaltung wartet, sind die Piraten schon bereit«, triumphierte man und filmte die Landschaft mit wartenden Journalisten und Unterstützern, die man übrigens nicht danach gefragt hatte, ob sie im Internet gezeigt werden wollten. Persönlichkeitsrechte galten an diesem Tag auch nicht für die Besucher oder Mitarbeiter der Klinik, die in ihren Autos auf das Gelände fuhren und mangels anderer Ereignisse gefilmt wurden. Dafür gehörte man ja schließlich zu den Guten, wie man während der Live-Übertragung nicht müde wurde zu erklären: »Ich glaub, die Piraten sind einige der wenigen, die sich um den Fall und nicht um die politische Tragweite kümmern« – wofür auch sprach, dass die beiden Livestreamer nicht nur im offiziellen Piratenmobil angereist waren, sondern auch T-Shirts ihrer Partei trugen. Und sich, als sie von einem Regentropfen getroffen wurden, prompt sorgten: »Haben wir einen Parteischirm dabei?« Das Interview mit Mollath fiel dann jedoch eher knapp aus: »Wie ist das Gefühl nach sieben Jahren?« Mollath korrigierte: »Es sind siebeneinhalb Jahre.« »Trotzdem, wie ist das Gefühl?«