Aleksej Sachnin im Gespräch über die Repression gegen Oppositionelle in Russland

»Der Staat hat es auf die Linke abgesehen«

In Russland warten derzeit mehrere Aktivisten der Linksfront in Untersuchungshaft auf ihren Prozess, einer steht bereits vor Gericht. Ihnen wird die Organisation von und Beteiligung an Massenunruhen bei einer Demonstration am 6. Mai 2012 auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau vorgeworfen. Nachdem sich die Anzeichen für eine bevorstehende Verhaftung im sogenannten Bolotnaja-Fall (Jungle World 30/2013) gehäuft hatten, reiste Aleksej Sachnin, eine der Führungspersonen der Linksfront und Mitorganisator jener Demonstration, Ende Mai über Weißrussland nach Serbien und beantragte schließlich in Schweden Asyl. Mit ihm sprach die Jungle World über die Repression in Russland gegen Opposi­tionelle und deren Folgen.

In Russland häufen sich seit dem vorigen Jahr Strafverfahren gegen Oppositionelle. Der Repression sind insbesondere linke Aktivisten ausgesetzt. Mit welchen Konsequenzen haben Sie in Russland zu rechnen, und was führte zu Ihrer Entscheidung, das Land zu verlassen?
In Russland droht mir mit größter Wahrscheinlichkeit eine langjährige Haftstrafe. Dennoch tat ich mich schwer mit der Entscheidung, zu gehen. Ich hätte bleiben und das Schicksal meiner Genossen und Freunde, Sergej Udalzow, Aleksej Gaskarow, Wladimir Akimenkow, Dmitrij Rukowischnikow und Leonid Raswosschajew, teilen können. Ausschlaggebend für die Emigration war aber der Umstand, dass ich in Freiheit für sie wesentlich mehr tun kann als aus dem Gefängnis heraus. Nicht nur für jeden einzelnen von ihnen, sondern auch für unsere Sache, für die wir gemeinsam gekämpft haben.
Präsident Wladimir Putin hat am Vorabend des G20-Gipfels auf einem Treffen mit Mitgliedern des Rats für Menschenrechte Zugeständnisse in einigen Fragen wie beim gegen NGOs gerichteten »Agentengesetz« angekündigt, über den Bolotnaja-Fall wollte er jedoch nicht sprechen. Wer ist besonders von Strafverfolgung bedroht und weswegen? Kommt der linken Bewegung dabei eine Sonderstellung zu?
Ja, ich bin davon überzeugt, dass der Staat es insbesondere auf die Linke abgesehen hat. Das ist kein Zufall, sondern Resultat einer politischen Entscheidung. Das hat damit zu tun, dass die Beteiligung der Linken an der breiten Demokratiebewegung die gesamte Logik der Verwaltung der Gesellschaft durch den Staat über den Haufen geworfen hat, die auf dem Prinzip beruht, dass es eine Masse voneinander isolierter Minderheiten gibt. Die Linke versuchte mit wechselndem Erfolg, die Interessen der Mehrheit zu artikulieren. Das ist für den Staat höchst gefährlich.
Die russischen Liberalen versuchen gar nicht erst, an die Mehrheit zu appellieren, dazu sind sie auch nicht in der Lage. Sie haben sich nach dem Zerfall der Sowjetunion dermaßen diskreditiert, dass sie nicht als demokratische Kraft gelten können. Ihr Rückhalt beruht auf ihrem Zugriff auf Ressourcen des politischen Establishments. Noch dazu strebten sie selbst die Isolation der Protestbewegung als privilegiertes Ghetto der oberen Mittelschicht an. Ausdruck dafür sind auch arrogante Aussagen wie die Gegenüberstellung der »kreativen Klasse« und der »aggressiven und gefügigen Mehrheit«. Ausgehend von ihrer bescheidenen Wählerbasis vertreten die Liberalen aber nur eine Minderheit.
Die Linke ist auch nur in der Minderheit.
Solange die Linke sich in der Isolation befand, stellte sie ebenfalls keine Gefahr für die Regierung dar. Man ließ uns also in Ruhe. Doch im Winter und Frühling 2011/2012 zeigte sich, dass unter dem linken Nachwuchs genügend organisatorisches und intellektuelles Potential vorhanden ist, um einen festen Pol in der erstarkten Protestbewegung zu bilden. In Russland finden zu wenige tiefgründige Diskussionen über die fundamentalen Belange für die Entwicklung des Landes statt. Bestenfalls wird das gesamte Desaster mit der allgegenwärtigen Korruption erklärt, die mittlerweile für das weltweite Böse steht. Linke Kräfte üben indes eine fundierte Kritik des russischen gesellschaftspolitischen Systems und stehen für eine radikale Alternative. Und wenn man sich vorstellt, dass nicht kompromittierte ehemalige Minister der Regierungen Jelzins oder Putins, sondern junge, engagierte Linke Forderungen wie die Ablehnung neoliberaler Reformen und autoritärer Kontrolle und die Umverteilung nationaler Reichtümer vertreten, denen sich viele Russinnen und Russen anschließen, gibt es eigentlich keinen Grund, weshalb diese »neuen Linken« nicht die Mehrheit auf ihre Seite ziehen sollten. Außerdem haben mit Einsetzen der Massenproteste die daran beteiligten Linken ihre traditionellen Grabenkämpfe beigelegt und eine Art Koalition gegründet. Damit will ich sagen, dass der Staat uns nicht ohne Grund als ernstzunehmende Gegner einstuft.
Welche Überlegungen spielten eine Rolle bei Ihrer Entscheidung, gerade in Schweden Asyl zu beantragen?
Eine ganze Reihe von Faktoren. Mir war wichtig, dass in dem Land eine starke linke Bewegung existiert und die logistischen Voraussetzungen vorhanden sind, um einen engen Kontakt mit Russland zu behalten. Außerdem gibt es in Schweden im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine relativ positive Haltung gegenüber politischen Emigranten. Und die klimatischen Verhältnisse sind wie zu Hause.
Es entsteht der Eindruck, dass sich viele Linke im Westen schwertun, Solidarität mit russischen Aktivisten zu üben. Von wem werden Sie in Schweden und anderen europäischen Ländern unterstützt? Welche Möglichkeiten gibt es, um von dort auf den gegenwärtigen Kurs der russischen Führung Einfluss zu nehmen?
Zumindest hoffe ich, politisch arbeiten zu können. Andernfalls hätte es sich nicht gelohnt, Russland zu verlassen, denn nach allem, was wir gesagt und getan haben, wäre es ehrlicher gewesen, ins Gefängnis zu gehen. Derzeit scheint die Zusammenarbeit mit linken Genossen gut zu laufen. Ich hatte bereits die Möglichkeit, über die Situation in Russland, politische Gefangene und die Rolle der Linken in der Protestbewegung zu sprechen, und zwar mit völlig unterschiedlichen Gruppen, von Linksradikalen über leitende Personen von im Parlament vertretenen Parteien und Menschenrechtlern bis zu einem akademischen Publikum. Die Aufmerksamkeit war groß, aber generell ist es natürlich kein leichtes Unterfangen. Umgekehrt könnte man fragen: Haben wir in Russland politische Emigranten aus der Ukraine oder Kasachstan ausreichend unterstützt?
Was könnte man konkret tun?
Objektiv betrachtet überschneiden sich die Interessen völlig unterschiedlicher Kräfte. Nach dem 6. Mai versuchte Putins Apparat, die Elite durch politische Repression und das schamlose Schüren von Fremdenfeindlichkeit zu konsolidieren. Das Regime entwickelt immer stärker faschistoide Züge, und das stellt nicht nur für die Linke ein Problem dar, sondern für alle. Noch dazu ist Russland das größte Land Europas. Angemessen wären Sanktionen gegen russische Beamte, die gegen Menschenrechte verstoßen. Solche Maßnahmen treiben einen Keil in die in den Repressionsapparat eingebundene Elite.
Was die europäische Linke betrifft, so kann sie in Bezug auf Russland wichtige Punkte ansprechen, die auch im Westen relevant sind, aber aus dem traditionellen politischen Diskurs gerne ausgeblendet werden. Beispielsweise muss die direkte Verbindung zwischen einer neoliberalen Sozialpolitik und dem Erstarken autoritärer Tendenzen genannt werden. Auch Themen wie Menschenrechte und Demokratie haben darin ihren Platz, die Situation von linken Gefangenen wie Wolodja Akimenkow, der im Gefängnis fast erblindet ist, gibt dafür genug her. Wichtig erscheint es mir, die linken Parteien und Verbände dazu zu bringen, die Diskussion über Russland nicht anderen Kräften zu überlassen.
In der letzten Zeit gibt es immer mehr Menschen, die aufgrund der staatlichen Diskriminierung Homosexueller zu einem Boykott der olympischen Winterspiele in Sotschi aufrufen. Kann sich die internationale Reaktion auf Russlands homophobe Gesetzgebung auch positiv auf die Angeklagten im Bolotnaja-Fall und andere verfolgte Aktivisten auswirken?
Da bin ich unsicher. Putins Polittechnologen bemühen sich, die Diskussion auf eine Konfrontation zwischen verschiedenen »kulturellen Minderheiten« und der sogenannten Mehrheitsgesellschaft zuzuspitzen. Dafür brauchte es diese idiotischen Gesetze, dafür werden Migranten in Lager gesperrt und dergleichen mehr. Wir sollten nicht in diese Falle tappen. Natürlich dürfen wir die offensichtliche Diskriminierung weder rechtfertigen noch verschweigen, aber es wäre falsch, sich in der vorgegebenen Weise der Mehrheit gegenüberzustellen. Die meist utopischen und einfach gestrickten Boykottaufrufe entsprechen genau jener eindimensionalen Konfrontationslogik, der sich die Linke keinesfalls anschließen sollte.