Belgiens WM-Qualifikation hat politischen Symbolwert

Ein Hype in Schwarz-Gelb-Rot

Belgiens »Rote Teufel« fahren zur WM. Taugt das Team auch als Symbol gegen die flämischen Separatisten?

Antwerpen, 11. Oktober 2013, früher Abend. Am Ufer der Schelde steigen trotz Dauerregens die Temperaturen: Vor einem gigantischen Bildschirm drängen sich Tausende in schwarz- gelb-roten Shirts und Perücken. Zwei Tore von Romelu Lukaku in Zagreb sorgen dafür, dass die belgische Fußballauswahl zur WM fahren kann, und versetzen die Fans in Euphorie. Mittendrin im Trubel steht, wie könnte es anders sein, Jean-Marie Pfaff. Im Gesicht hat er dieses Grinsen, das das sprichwörtliche »Honigkuchenpferd« definiert. »Das Fest kann losgehen«, sagt er, und dass die »Roten Teufel« in Brasilien sicher ähnlich auftrumpfen würden wie seinerzeit in Mexiko, als sie mit Pfaff im Tor ins Halbfinale kamen.
Fast auf den Tag genau ein Jahr zuvor, ein paar hundert Meter den Fluss hinunter: Auch im Event-Zentrum Zuiderkroon ist Euphorie angesagt. Doch die Farben der Fans sind andere, und die Fahnen, mit denen auch sie überschwänglich wedeln, zeigen den flämischen Löwen. Auf der Bühne steht Bart De Wever, die Galionsfigur der flämischen Nationalisten, die soeben mit Pauken und Trompeten die Kommunalwahlen gewonnen haben. De Wever macht keinen Hehl daraus, dass der Weg zu einem selbstständigen Flandern seiner Meinung nach über die Rathäuser führt. Er nennt die Wahl einen »Wendepunkt der Geschichte«.
Bleiben wir noch einen Moment im Oktober 2012. In dieser Zeit verdeutlicht sich die Bedeutung der nationalen Fußballauswahl im komplexen System belgischer Symbolpolitik. Die Kommunalwahlen liegen genau zwischen zwei Spieltagen der WM-Qualifikation. Am Freitag zuvor gewinnt Belgien überraschend klar mit 3:0 in Serbien. Am Dienstag darauf folgt in Brüssel ein 2:0 gegen Schottland. Danach steht man ungeschlagen an der Spitze der Gruppe A. In den letzten Jahren sprechen belgische Medien von einer »Goldenen Generation«, die da heranwachse. Sollten die Kicker diese Erwartungen nun erfüllen? Der sportlichen Standortbestimmung folgt eine politische. Es überrascht nicht, dass sie von Vincent Kompany kommt. Der Kapitän, in gleicher Funktion auch bei Manchester City tätig, ist der Sohn einer Belgierin und eines Kongolesen. Er ist bekannt für seine deutlichen Stellungnahmen und sagt Dinge wie: »Egal, was seine Abstammung ist: Ein Belgier ist ein Belgier.« Nach dem Schottland-Match twitterte Kompany: »Heute Abend gehört Belgien allen, vor allem aber uns.« Jeder im Land versteht die Anspielung auf De Wever. Der sagte auf der Wahlparty mit Bezug auf den Slogan »Antwerpen gehört allen«, die Stadt gehöre an diesem Abend vor allem den Nationalisten. Kompany traf einen Nerv mit seinem Tweet. Auch im Roi-Baudouin-Stadion gab es an jenem Abend Plakate, die sich spöttisch an De Wever richteten. »Bart, heute bist du allein.« Eine gerade Linie scheint von dort zur heutigen Situation zu führen: Inzwischen stehen die Teufel ganz gut da. Ohne Niederlage fliegen sie nach Brasilien, der Hype um das Team übersteigt alles, was man diesbezüglich in Belgien kennt. Wenige Tage vor dem entscheidenden Match in Zagreb wird eine Umfrage veröffentlicht, wonach der Vorsprung der Nationalisten gegenüber den anderen Parteien schwindet. Der Aufstieg der Nieuw-Vlaamse Alliantie, erst 2001 gegründet, schien bisher fast unaufhaltsam. Sollte er nun seine Grenze erreicht haben? Ludo Vandewalle, Redakteur für Sport bei der Tageszeitung Het Nieuwsblad, warnt davor, die Wechselwirkung von Fussball und Politik überzubewerten. Die Massenbegeisterung als Ausdruck eines neuen Belgien-Gefühls zu interpretieren, findet er verkürzt. Nach fünf an die Wand gefahrenen Qualifikationsrunden seien die Fans durch erfolgreichen und attraktiven Fußball naturgemäß leicht zu gewinnen.
Natürlich ist es auch nicht so, dass die »Roten Teufel« grundsätzlich politisch klüger wären als andere Teams. Wieso sollten sie auch? Ihren Ruf als »Goldene Generation« verdanken sie schließlich nicht ihren gesellschaftspolitischen Stellungnahmen. Mehr noch: Die »Roten Teufel« erzählen den gleichen patriotischen Humbug von Stolz und Ehre wie Sportler überall. Jan Vertonghen, Verteidiger von Tottenham Hotspur, sagte kurz vor dem entscheidenden Spiel, es sei »ein Genuss, Belgier zu sein«. Auch und gerade Vincent Kompany teilt solchen Anschauungen, etwa wenn er von »Stolz auf mein Team, stolz auf mein Land« twittert. Zu beachten ist: Der Patriotismus, den Kompany meint, ist vor allem ein inklusiver. Er beschrieb sich einmal als »echten Belgier, der stolz ist, die Farben seines Landes vertreten zu dürfen, aber auch stolz, dadurch die Kongolesen zu repräsentieren«. Wer so argumentiert, kann der sezessionistischen flämischen Bewegung, verwurzelt im identitären Sumpf eines »Europa der Vaterländer«, nichts abgewinnen. Kompanys Vater sagte über seinen Sohn einmal, er wolle nicht, dass »sein Land in kleine Stücke zerfällt«.
Der zweite öffentlich bekennende »Belgizist« in den Reihen der Teufel ist der Coach: Marc Wilmots. Zwischen seiner aktiven Karriere und der als Trainer saß er für den liberalen Mouvement Réformateur einige Jahre im belgischen Senat. Die Politik indes ist in Belgien gespalten: In den siebziger Jahren trennten sich die Parteien in einen frankophonen und einen flämischen Teil. Wilmots wuchs in der frankophonen Wallonie auf, nur fünf Kilometer von der Sprachgrenze entfernt. Sein Ziel? »Belgien auf die europäische Karte zu bringen, mit seinen Frankophonen, Niederländisch- und Deutschsprachigen«. Marc Wilmots, dem manche Schalke-Fans noch heute gerne ein Denkmal setzen würden, scheint damit genau am richtigen Platz. Wenn er in Interviews abwechselnd auf Niederländisch und Französisch antwortet, erinnert das an Panini-Alben aus einer fernen Vergangenheit, als Belgien sich regelmäßig für große Turniere qualifizierte. »Belgique – België« stand zweisprachig unter dem Wappen des Verbands. Die Fotos daneben zeigten meist kernige Holzhackertypen, deren Nachnamen aussahen, als habe sich daran jemand mit einem Würfelbecher und den Silben Van-, der- und Ver- zu schaffen gemacht. Inmitten dieses eindrucksvollen Defensivkabinetts ein einzelnes Migrantenkind: Enzo Scifo, der Ballvirtuose.
2013 hat sich das grundlegend geändert. Die einst so rustikalen »Roten Teufel« fallen heute durch Spielkultur und technisch anspruchsvollen Fußball auf. Hinzu kommt, dass das Team mit seinem Gesamtmarktwert von 360 Mil­lionen Euro deutlich polyglott geprägt ist. Zehn der in der Qualifikation eigesetzten 21 Spieler stammen von Einwandern ab, in der Offensivabteilung weit mehr als die Hälfte. Die meisten kicken für renommierte internationale Clubs, allein elf in der Premier League. Aufgewachsen in einer globalisierten Fußballkultur, sind sie heute deren Protagonisten. Seit ihrer Qualifi­kation gelten die »Roten Teufel« als das interessanteste Team im europäischen Fußball, das nicht wenige als Favorit für die WM betrachten.
Wer in diesen Tagen durch Brüssel läuft, kommt nicht umhin, überall einen beispiellosen Hype wahrzunehmen. Die Zeitschriftenregale sind voll mit Sonderausgaben der Sportmagazine, die ersten Bücher liegen in den Läden, in Cafés wimmelt es von Flaggen und Wimpeln. Man kauft eine Jupiler-Dose, öffnet sie und schaut auf einmal Dribbelwunder Eden Hazard ins Gesicht, oder Mittelfeldmotor Steven Defour. Dieses Team ist auch eine Marke geworden, mit einem einprägsamen Logo: roter Dreizack auf gelbem Grund.
Der Höhepunkt von alldem steht zweifellos noch bevor. Just wenn in Panini-Alben wieder Sticker mit dem Aufdruck »Belgique – België« geklebt werden und das Team in der entscheidenden Vorbereitung ist, finden in Flandern, Wallonien und im zweisprachigen Brüssel Parlamentswahlen statt. Diese werden seit dem Erfolg der Nationalisten 2012 zur »Mutter aller Wahlen« stilisiert. Danach solle Belgien zu einer Konföderation umgewandelt werden, die sich mit der Zeit von selbst auflösen wird. Angesichts der Vorfreude auf die Weltmeisterschaft 2014 könnte der Wahlkampf auf ein inofizielles Duell zwischen Bart De Wever und den Roten Teufeln hinauslaufen. Vorsorglich beschwichtigt der N-VA-Chef in diesen Tagen die Stimmung. »Ich finde es eigentlich phantastisch, dass in unserem Land endlich wieder auf hohem Niveau Fußball gespielt wird«, schnurrt De Wever. »Ich sehe, wie viel Enthusiasmus dadurch entsteht. Das ist gut für die Wirtschaft. Aber warum muss man das immer in politische Begriffe umwandeln?«
Beim rechtsextremen Vlaams Belang verschwendet man mit solchen Überlegungen keine Zeit. Schon vor einem Jahr hieß es: »Vielleicht holen die »Roten Teufel« ein Ticket nach Brasilien. Aber wer denkt, dass sie Belgien retten, muss schon sehr naiv sein.«