Moritz Kirchner kritisiert die Ukraine-Politik der Linkspartei

»Für Frieden sind alle«

In der Linkspartei ist man sich einig: Im Ukraine-Konflikt geht die Aggression vor allem vom Westen aus. Moritz Kirchner (28), Mitglied des Kreisvorstands der »Linken« in Potsdam und Promovend in Poli­tischer Theorie an der Uni Potsdam, ist einer der wenigen, die das anders sehen.
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Sie haben in einem Aufsatz für die Blätter für deutsche und internationale Politik die Maidan-Proteste als legitim und den Putinismus als illegitim bezeichnet. Können Sie Ihre Argumentation kurz skizzieren?
Bei den Maida-Protesten ging es um eine Kritik an den Oligarchen, daran, dass sich Einzelne den wirtschaftlichen Reichtum der Ukraine unter den Nagel reißen. Der Ursprungsimpuls für die Proteste war völlig legitim. Putinismus steht für ein autoritäres Regime, das nicht demokratisch ist. Das, was gerade passiert, ist eine imperiale Politik und kann aus einer linken Sicht daher unmöglich als legitim gelten. Eine positive Bezugnahme auf das politische System Russlands ist mit den Prinzipien der Erfurter Parteiprogramms, insbesondere unserer Idee eines demokratischen Sozi­alismus, unvereinbar.
Die Tatsache, dass auf dem Maidan doch recht viele Faschisten mitgemischt haben, relativiert Ihre Einschätzung der Proteste nicht?
Natürlich soll man die Gefahr der faschistischen Parteien nicht unterschätzen. Aber es ist der Lage unangemessen, die Proteste auf diese faschistische Beteiligung zu reduzieren. Die große Mehrzahl der Menschen hat Kritik an der Korruption in der Ukraine geübt. Und die Wahlergebnisse haben ja jetzt auch gezeigt, dass die Zustimmung zu den Faschisten gering ist.
Oft wird auch angeführt, dass die Nato oder »der Westen« Russland bedrängten, immer näher an seine Grenzen rücken würden.
Das Paradoxe ist doch: Linke lehnen die militärische Durchsetzung geopolitischer Interessen normalerweise ab. Und jetzt sagen plötzlich viele, man müsse Russland aber doch verstehen. Nein, wenn Politik militarisiert wird, dann muss man das als Linker kritisieren, ebenso die imperiale Einverleibung eines Gebietes.
Sie schreiben: »Die Linke in Deutschland kämpft für den Frieden. Der militärische Konflikt ist von Russland begonnen worden. Folglich muss Russland auch der Adressat der Kritik sein.« In der Linkspartei ist davon nicht die Rede. Im einstimmig angenommenen Beschluss des Parteitags heißt es: »Anders als es die Bundesregierung darstellt, ist nicht in erster Linie Russland für die Zuspitzung der Situation um die Ukraine verantwortlich.«
Ich denke schon, dass man versucht hat, einen ausgewogenen Antrag zu formulieren. Dass man alle Seiten zum Verzicht auf Gewalt und zum Dialog auffordert, ist völlig richtig. Nur, angesichts der Tatsache, dass der Hauptimpetus bei Russland liegt, ist es natürlich problematisch, dass man zwar alle Seiten auffordert und den Westen explizit benennt, aber Russland und die prorussischen Separatisten nicht. Man hat Russland auch nicht aufgefordert, seine Truppen von der ukrainischen Grenze abzuziehen. Die Mehrheit in der Partei hat ein größeres Verständnis für das russische Vorgehen, als ich es nachvollziehen kann.
Eine recht deutliche Mehrheit. Außer von Ihnen habe ich nicht eine einzige Wortmeldung aus der Partei vernommen, bei der Russland als Aggressor ausgemacht wird. Katja Kipping, die auf dem Parteitag versucht hat, zumindest ein wenig Äquidistanz zu wahren, erhielt wenig Applaus und wurde anschließend bei der Vorstandswahl mit kärglichen 77,3 Prozent der Stimmen abgestraft.
Meine Position unterscheidet sich nicht von der von Katja Kipping: Nicht auf der Seite des Westens, nicht auf der Seite Russlands, sondern auf Seiten des Völkerrechts und der Menschen in der Ukraine. Hegemonial ist in der Partei die Position: Wir wollen ein Gegenwicht zum Mainstream setzen – und so kommt es dann zu einer gewissen Solidarisierung mit Russland.
Warum hört man auch aus dem Reformerlager um Stefan Liebich und Dietmar Bartsch keine Gegenposition? Liebich, außenpolitischer Sprecher der Partei, laviert herum und antwortet auf die Frage, was nun zu fordern sei: »Der erste Schritt wäre, Eskalationen, wie sie Teile der westlichen Politik beitreiben, einzustellen.« Auch er sieht also die Eskalation zuerst vom Westen ausgehen.
Grundsätzlich finde ich es richtig, dass es keine Sicherheitsarchitektur geben kann, ohne Russland einzubeziehen. Aber der Reformerflügel führt bestimmte Debatten nicht, weil ihm klar ist, welche Schärfe sie gewinnen würden. Dazu kommt ein Zwiespalt: Einerseits will man nicht die Kräfte unterstützen, die der Westen hofiert, andererseits will man sich nicht einseitig hinter Russland stellen – und so hält man sich dann mit Positionierungen lieber zurück. Aber gerade diese Differenzierung wäre ja eine Stärke für den innerparteilichen Diskurs.
Sie haben die Wahlbeobachtung des Krim-Referendums durch europäische Rechtspopulisten und Rechtsextreme kritisiert. Aber auch aus Ihrer Partei sind vier Funktionäre als sogenannte Wahlbeobachter vor Ort gewesen. Das muss doch Diskussionen gegeben haben, dass vier Linke mit lauter Ultrarechten zusammen zur Legitimation einer auch militärischen Intervention auf die Reise gehen.
Ich bin ja nicht im Parteivorstand oder ähnlichen Gremien. Ich weiß nur, dass es auf Facebook dazu eine Diskussion gab. Im Grunde verlief das ähnlich wie damals bei der Mavi Marmara, es gab vereinzelte Diskussionen, aber nicht im größeren Stil. Ich denke, dass gerade vor dem Hintergrund, wie stark die Rolle der ukrainischen Faschisten und der Swoboba kritisiert wird, die Sympathien, die rechte Parteien für Putin haben – Stichwort: starker Mann und die selbstbewusste Vertretung nationaler Interessen – von Linken viel zu wenig reflektiert werden.
Ihr Beitrag aus den Blättern für deutsche und internationale Politik wurde auch auf der Internet-Seite des Forums Demokratischer Sozialismus, der Reformer-Plattform, veröffentlicht. Welche Reaktionen gab es?
Es gab einen Shitstorm bei Facebook, vor allem von Menschen, die sich nach innerparteilichen Koordinaten eher links verorten. Teilweise gab es auch Zuspruch, allerdings eher von Leuten außerhalb der Partei. Und ich habe auch so manche E-Mail aus der Partei erhalten, die nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig war.
Welche Rolle spielt in der Partei der Antiimperialismus?
Eine große. Wir sagen, wir treten ein für Frieden und gegen Militarismus und wir wollen kein Recht des Stärkeren – das steht in der Präambel des Parteiprogramms. Das Grundverständnis ist in diesem Sinne antiimperialistisch. Aber ich denke, wenn man antiimperialistisch ist, dann doch bitteschön gegenüber allen Seiten, also auch gegenüber Russland!
Es wird ja auch häufig betont, dass die russische Intervention antifaschistisch begründet sei, weil in Kiew seit dem Umsturz Faschisten mitregieren. Zeigen sich hier die Schwächen des alten Antifaschismus-Verständnisses aus DDR-Zeiten?
Das wäre etwas weit hergeholt, zu sagen, dass das aus DDR-Zeiten herrührt. Ich glaube eher, dass die Tatsache, dass da auch Faschisten am Werk sind, für viele ein derart starker emotionaler Bezugspunkt ist, dass darauf sich die Wahrnehmung fokussiert und darauf die Bewertung des Konflikts basiert. Aber in der Tat ist es paradox: Wenn es denn so wäre, dass der Umsturz in der Ukraine faschistisch konnotiert wäre, was meiner Meinung nach so allgemein nicht gesagt werden kann, dann kann doch nicht eine nationalistische oder imperialistische Politik die Antwort darauf sein. Ich sehe so eine gewisse Romantisierung von Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion. Dieser Sowjetromantizismus führt dazu, dass man gegenüber der russischen Regierung oft zu nachsichtig ist und dann mit zweierlei Maß misst.
Gabi Zimmer, Fraktionsvorsitzende der »Linken« im Europaparlament, hat erklärt, sie stehe dazu, eine »Russland-Versteherin« zu sein, damit meine sie ihre Sozialisation mit Dostojewksi und der russischen TV-Serie »Nu, pogodi!«. Also haben wir es so gesehen vielleicht doch mit einem DDR-Überbleibsel oder einer Neuauflage der deutsch-sowjetischen Freundschaft zu tun?
Die DDR-Sozialisation führt sicher dazu, dass man ein anderes Verständnis hat. Die Sowjetunion war zu Ostzeiten der große Bruder. Sie wurde vor allem als Befreier gesehen und dafür habe ich auch jedes Verständnis. In Teilen der Linken ist es aber auch so eine Art antiwestlicher Selbsthass.
Gibt es Unterschiede zwischen West und Ost?
Kaum. Der Grad, in dem eine Parteinahme für Russland erfolgt, korreliert eher damit, auf welchem Flügel der Partei man sich verortet.
Liegt die Zurückhaltung der Reformer vielleicht daran, dass sie sich sonst immer auf ihre brave Basis im Osten verlassen können, bei diesem Thema jedoch nicht?
Ich denke, das ist in der Tat ein Grund. Aber ich würde hinzufügen wollen: So ein Parteitag hat immer eine gewisse Dynamik und sobald Emotionen ins Spiel kommen, sobald dort die Nato und der US-Imperialismus gegeißelt werden, heizt sich die Stimmung auf. So sind Parteitagsbeschlüsse oft radikaler als das, was die Partei dann praktisch umsetzt. In der Psychologie spricht man von Gruppendenken, man radikalisiert sich in so einem Prozess. Da haben dann vielleicht einige Angst, zurückgestoßen zu werden, wenn sie zu klar eine andere Meinung äußern.
Dafür wird man dann vielleicht von anderen zurückgestoßen. Es gibt mehrere Arbeitsgruppen zwischen SPD, Grünen und Linken, die an einem rot-rot-grünen Projekt für die Zukunft arbeiten. Können die jetzt einpacken?
Die nächste Bundestagswahl ist erst in drei Jahren, das ist in der Politik eine sehr lange Zeit. Sicher war dies für die Verständigung des linken politischen Lagers ein Rückschritt. Und auch für den Reformerflügel, der explizit auf Rot-Rot-Grün hingearbeitet hat, ist dies ein Rückschlag. Die Partei muss sich über ganz grundlegende Fragen noch einmal neu verständigen. Eine positive Bezugnahme auf das russische Handeln auf der Krim ist mit dem Erfurter Parteiprogramm eigentlich unvereinbar. Die Außenpolitik ist hinsichtlich rot-rot-grüner Perspektiven die entscheidende Frage.
Aber nichts deutet daraufhin, dass die Linkspartei sich außenpolitisch von ihrem antiamerikanischen Kurs abbringen lässt.
Zur Frage der Regierungsbeteiligung gibt es ja auch ganz grundsätzlich unterschiedliche Positionen, für die ich auch alle Verständnis habe. Aber auch SPD und Grüne haben in ihrer Regierungszeit gegen eigene Positionen verstoßen. Wenn sie zu diesen ursprünglichen Standpunkten zurückkehren würden, wäre eine Verständigung durchaus möglich. Wir müssen aber auch über die Einzelfallprüfung diskutieren, denn für Frieden sind wir alle, klar. Aber wir haben keine Antworten, wenn eine Aggression bereits erfolgt ist, wenn der Aggressor nicht dialogbereit ist. Unser friedenspo­litisches System funktioniert nur so lange, wie es noch zu keiner militärischen Auseinandersetzung gekommen ist.
In einer Zeitung wurde vermutet, dass womöglich »einige wichtige Leute in der Linkspartei den Streit um die Ukraine nutzen, um Rot-Rot-Grün unmöglich zu machen«.
Die Wahl von Tobias Pflüger statt Dominik Heilig zum stellvertretenden Parteivorsitzenden war natürlich eine Niederlage für den Reformerflügel, weshalb der ja nun auch in eine Phase der Selbstfindung getreten ist. Klar, es kann sein, dass es Leute gibt, die da bestimmte Pflöcke einschlagen wollen, aber ich denke nicht, dass dies das zentrale Motiv ist, sondern schon die Bewertung des Ukraine-Konflikt.
Wie geht die Debatte in der Linken jetzt weiter?
Es ist wichtig, dass diese Debatten geführt werden. Man muss sich klar werden, dass man nicht deshalb schon Friedenspartei ist, weil man irgendwie gegen Krieg ist. Man muss schon auch darüber reden, was das jeweils konkret bedeutet. Die größte Gefahr sehe ich darin, dass sich unsere Partei, die sich bereits als SED/PDS mit dem Grundsatzreferat von Michael Schumann 1989 klar gegen Autoritarismus und eine rückwärtsgewandte Politik ausgesprochen hat, durch eine zu starke Bezugnahme auf Russland in Sachen Bürgerrechte, Minderheitenrechte, Demokratie und Freiheit unglaubwürdig wird.