Der Mindestlohn verstaatlicht den Arbeitskampf

Arbeiten für die ­Armut

Der Mindestlohn definiert die Armutsgrenze, er beendet nicht den Lohnverfall, sondern legt nur fest, bis wohin Löhne sinken dürfen.

Was waren das für Glaubenskriege vor fünf, sechs, sieben Jahren, ob die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns als ein Erfolg einer reformorientierten Linken gelten dürfte oder ob es sich viel mehr um eine Zementierung des mit der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen aufgelegten Armutsprogramms handeln würde! In einem halben Jahr ist er da, 8,50 Euro pro Stunde. Die SPD drückt ihn durch, die CDU zieht mit, als hätte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) seit 2005 nicht durchgehend gegen den Mindestlohn ausgesprochen. Und niemand stöhnt, keine Kampagne von Spiegel und Bild ­gegen diesen staatlichen Gewaltakt, der sich ja vor allem gegen Unternehmen richtet, ist zu erwarten. Auch die Linke stöhnt nicht. Zwar bedeuten die Ausnahmeregelungen für Jugendliche unter 18 Jahren, Langzeitarbeitslose, Zeitungszusteller und Saisonkräfte de facto eine Diskriminierung. Doch immerhin, der Anfang ist gemacht, die Ausnahmen werden nicht zum Kern des Gesetzes gezählt, mit dem guten Willen einer künftigen rot-rot-grünen Regierung würden sie aufgehoben.
Die Ausnahmen drücken aber mehr als nur den Kleinmut der Großen Koalition aus, sie gehören durchaus zum Wesen des Gesetzes. Denn es definiert die Armutsgrenze, es stoppt keinen Lohnverfall, sondern drückt nur aus, bis wohin Löhne sinken dürfen. Wer sowieso schon ganz arm dran ist – eben: Langzeitarbeitslose oder Saisonarbeiter –, muss sich erst mal bis zu dieser Armutsgrenze hocharbeiten. Tatsächlich setzt der Staat dem Kapital eine Grenze, allerdings nur, weil er die prinzipielle Unvereinbarkeit von existenzsichernder Arbeit und Kapitalverwertung anerkennt.
Aber es ist doch ein Fortschritt, mag die Reformlinke einwerfen, man kann doch als Polemiker gegen den Mindestlohn nicht ernsthaft eine weitere Verelendung befürworten. Stimmt schon, gleichwohl dürfen die linken Befürworter ihrerseits daran erinnert werden, dass er einer bereits stattgefundenen Verelendung den Segen erteilt. 8,50 Euro bedeuten 1 400 Euro – brutto! – im Monat. Und das überwiegend in Branchen, in denen Knochenarbeit von den Lohnabhängigen abgefordert wird. Aber die Armut ist ja abgeschafft, der Niedriglohnsektor mit dem Dekret des Mindestlohns beseitigt und von der Regierung verboten – wie einst das Waldsterben.
Der Mindestlohn sanktioniert nicht nur die Armutsgrenze, sondern auch die Schwäche der Gewerkschaften. Die vermochten ihn mittels ihrer noch verbliebenen Macht in Tarifauseinandersetzungen nicht flächendeckend durchzusetzen, sie müssen es außerdem schlucken, dass für etwa anderthalb Millionen working poor der Mindestlohn nicht gelten wird. Der Mindestlohn bedeutet eine weitere Verstaatlichung der Arbeitskämpfe. Es ist der Staat, der definiert, was sozial ist, und damit den Gewerkschaften ein weiteres Moment ihrer – ohnehin sehr relativen, weil an ­einem imaginären Gemeinwohl orientierten – Eigenständigkeit raubt. Der gesellschaftliche ­Effekt dürfte verheerend sein: Jetzt, wo Arbeit wieder »sozial« wird, wer mag da noch von Arbeitszeitverkürzung reden, in der sich immerhin die Aufkündigung der Koppelung von Arbeit und Leben manifestieren würde?