Der NSU-Prozess

Urlaub mit dem NSU

Während die Überprüfung der Ermittlungsbehörden von Tötungsdelikten auf rechtsextreme Motive ergebnislos bleibt, beschäftigt sich das Münchner Landgericht im NSU-Prozess mit den Urlaubsaktivitäten der mutmaßlichen Rechtsterroristen.

Die Nachricht produzierte wenige Schlagzeilen: Die Polizeibehörden von Bund und Ländern sehen bislang keinen Anlass, die offizielle Zahl von rechtsextrem motivierten Tötungsdelikten zu korrigieren. Aus Ermittlerkreisen heißt es, dass keiner der überprüften Fälle neue Anhaltspunkte ergeben habe. Offiziell bleibt es daher bei 63 durch rechtsextreme Gewalt Getöteten seit der Wiedervereinigung. Dies verblüfft nicht wenige Experten. Bereits vor zwölf Jahren bemängelten die Autoren des ersten »Periodischen Sicherheitsberichts« (PSB), der gemeinsam vom Bundesjustizministerium und vom Bundesinnenministerium herausgegeben wurde (Jungle World 3/2014), dass weder »in der wissenschaftlichen Forschung und Analyse, noch in der Arbeit der Polizei und Justiz, noch in den Interventionsstrategien und Gegenmaßnahmen von Politik und Bildung die Opfer rechter Gewalt bislang hinreichend berücksichtigt« worden seien. Unter den damals angeführten Fällen, in denen bisher nicht von einem rechtsextremen Motiv ausgegangen wurde, findet sich auch der Tod von Falko Lüdtke.

Der Punk traf am 31.Mai 2000 an einer Bushaltestelle in Eberswalde auf Mike Bäther, der der rechtsextremen Szene angehörte und deutlich erkennbar die acht Zentimeter große Tätowierung eines Hakenkreuzes auf dem Hinterkopf trug. Lüdtke stellte ihn deshalb zur Rede, aus der verbalen Auseinandersetzung im Bus entwickelte sich nach dem Aussteigen ein Handgemenge. Schließlich versetzte Bäther dem mit dem Rücken zur Fahrbahn stehenden Lüdtke einen Schlag auf den Brustkorb, woraufhin dieser das Gleichgewicht verlor und auf die Straße taumelte, wo er von einem Taxi erfasst wurde. Lüdtke erlag noch am selben Abend seinen Verletzungen. Insgesamt untersuchten die Ermittlungsbehörden 418 vollendete und 327 versuchte Tötungsdelikte. So wie im Fall von Falko Lüdtke sahen die Fahnder in allen ausgewerteten Fällen keine Anhaltspunkte für eine rechtsextreme Motivation der Täter. Zwar will die Kommission Staatsschutz, in der das BKA mit den Landeskriminalämtern kooperiert, ihre Arbeit noch nicht beenden, nun sollen in der »Phase 1b« sämtliche Fälle überprüft werden, bei denen es Tatverdächtige, aber keine Verurteilung gab. Doch angesichts der bisherigen Arbeitsergebnisse der Kommission ist mit bahnbrechenden Resultaten nicht zu rechnen. Bei der Überprüfung aller ungeklärten Fälle zwischen 1990 und 2011 sollte die Kommission außerdem untersuchen, ob der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) weitere Straftaten begangen hat. Neue Erkenntnisse liegen auch in diesem Bereich nicht vor.
Die Entscheidung von Beate Zschäpe, ihre Pflichtverteidiger zu entlassen, hat dem Münchner NSU-Prozess wieder mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit verschafft. Spekuliert wird nicht nur über eine mögliche Zeugenaussage Zschäpes, sondern auch über die Auswechslung einiger ihrer Anwälte. Von den drei Pflichtvertei­digern habe Zschäpe sich mehr versprochen, äußerte die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen im Deutschlandfunk. Zschäpes Einwände gegen die Verteidiger überzeugten den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl nicht. Seiner Meinung nach hat die Angeklagte in ihrem Antrag keine »konkreten und hinreichenden Anhaltspunkte« genannt, die darauf hindeuteten, dass das Vertrauensverhältnis zu ihren Verteidigern gestört sei.

Der Prozess ging nach einer kurzen Unterbrechung in der vorigen Woche mit der Befragung einer 21jährigen Studentin aus Peine weiter. Die Zeugin hatte Zschäpe und ihre beiden Komplizen, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, beim Familienurlaub 2007 auf der Ostseeinsel Fehmarn kennengelernt. Weinend betrat sie den Gerichtssaal, sie berichtete, wie sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester die Ferien auf Fehmarn verbracht habe, als eines Tages »die drei« auf sie zugekommen seien und gefragt hätten, ob jemand Lust auf eine Runde Doppelkopf habe. Man freundete sich an, verbrachte drei Wochen lang Zeit mit­einander und tauschte am Ende des Urlaubs Telefonnummern aus. Aus der Urlaubsbekanntschaft entwickelte sich eine feste Freundschaft. In den folgenden Jahren stimmte die Familie ihren Urlaub mit den dreien, die sich Liese, Gerry und Max nannten, ab. Man kommunizierte über ein Handy, das sich meistens bei Zschäpe befand. »Ich habe die Nummer immer noch«, sagte die junge Frau vor Gericht. Sie beschreibt das Trio als enge Freunde. Die drei seien gleichberechtigt gewesen, hätten alles voneinander gewusst und alles zu dritt geplant, nur bezahlt habe stets »Liese«. Zschäpe habe immer ein großes Portemonnaie dabei gehabt, mit 500-Euro-Scheinen darin, und sie habe immer alles bezahlt: »Sie hatte einen Geldbeutel voller Scheine.« Auch außerhalb der Ferienzeit hielt man Kontakt. So berichtete die Zeugin von Telefonaten und spontanen Besuchen: »Die drei haben dann einfach geklingelt und Geschenke vorbeigebracht.« Zu ihrem 17. Geburtstag habe sie das Trio eingeladen. Fast wie Ersatzeltern seien die drei gewesen. »Das war schon eine besondere Beziehung«, sagte die Zeugin. Über Politik hätten sie sich nie unterhalten. Aber entweder Max oder Gerry, sie könne sich nicht mehr genau daran erinnern, um welchen der beiden Männer es sich handelte, habe ihr erklärt, wie man eine Bombe baue. »Die Männer haben so über Bomben erzählt, als hätte das jeder in seiner Jugend schon mal gemacht.« Ihr gegenüber habe einer der beiden Uwes die drei nö­tigen Bestandteile genannt. Interessiert habe sie das damals nicht. Gegen Ende ihrer Aussage fragte Götzl die Studentin, warum sie geweint habe, als sie den Saal betrat. »Für mich ist eine Welt zusammengebrochen«, berichtete sie von jenem Moment, als sie die drei mutmaßlichen Mitglieder des NSU nach dessen Selbstenttarnung in den Nachrichten sah. Anfangs konnte sie wegen Konzentrationsproblemen nicht mehr zur Schule gehen und musste therapeutisch betreut werden. »Ich habe ihnen zu 100 Prozent vertraut. Und dann habe ich gemerkt, sie haben mich von vorne bis hinten belogen«, beschrieb sie ihre Erfahrung vor Gericht. Beim Verlassen des Saals wendete sich die Zeugin noch einmal in Richtung der Angeklagten und winkte ihr vorsichtig zu. Zschäpe winkte nicht zurück.

Die zweite Zeugin des Tages war ebenfalls eine Urlaubsbekanntschaft von Zschäpe, Mundlos und Bönhardt. Gemeinsam mit ihrer Familie und »unseren Ossis«, wie sie die mutmaßlichen Rechtsterroristen nannten, verbrachten sie viele Jahre lang den Urlaub auf der Ostseeinsel. Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt seien »eingeschworen« gewesen, aber ihnen gegenüber als »drei völlig nette, offene Menschen« aufgetreten. Mundlos sei am stärksten auf die Familien zugegangen, er habe ständig Scherze gemacht. Zschäpe sei hingegen für sie und die anderen Mädchen eine Vertraute gewesen: »Wir waren uns ähnlich, hörten beide ›Die Ärzte‹, taten uns schwer mit Frauenfreundschaften.« Zu dieser Zeit habe sie eine Handtasche mit einem Anti-Nazi-Aufkleber getragen – die drei Neonazis hätten darauf nicht reagiert.
Vielen Rechtsextremen gilt der NSU seit dessen Selbstenttarnung als Vorbild, auch beim Begehen von Straftaten. In seinem Bericht für 2013 spricht das Bundesamt für Verfassungsschutz zwar nur von »vereinzelten Straftaten« mit »positiver Bezugnahme auf den NSU«. Eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei, wie viele Straf- und Gewalttaten unter Bezugnahme auf den NSU seit November 2011 registriert worden seien, legt eine andere Deutung nahe: 218 entsprechende Delikte werden von der Regierung genannt. Martina Renner (Linkspartei), sagte, die Zahlen seien »erschreckend«. Statistisch gesehen würden seit der Selbstenttarnung des NSU alle vier Tage in Deutschland Straf- und Gewalttaten mit NSU-Bezug verübt.