Die wirtschaftspolitische Debatte über das »Vollgeld«

Zurück zum Chicago-Plan

Muss noch mehr Geld in Umlauf gebracht werden, um die Krise zu bewältigen? Oder sollte es nicht doch besser weniger sein? Einer nun wieder diskutierten ökonomischen Lehrmeinung zufolge sollen nur noch die staatlichen Zentralbanken Geld schöpfen dürfen.

Krisen sind immer auch Zeiten großer Verwirrung. Weil die klassische Ökonomie und stärker noch ihre volkswirtschaftlichen Nachfolger von der sich selbst regulierenden Stabilität kapitalistischen Wirtschaftens ausgingen und -gehen, wirken die dargebotenen Erklärungen für Krisen ausgesprochen dürftig. Selbst wenig kritischen Zeitgenossen bleibt dies kaum verborgen. Unvergessen ist die Desorientierung der versammelten Starökonomen der London School of Economics anlässlich des Besuchs der Queen im November 2008. Sogar auf die vorhersehbare Frage Elisabeths II., warum keiner von ihnen die Krise vorhergesehen habe, mussten sie sich Bedenkzeit erbitten. Acht Monate brauchten sie schließlich für ein dreiseitiges Antwortschreiben. »Um die Sache zusammenzufassen«, hieß es darin resümierend, »war es ein Versagen der Vorstellungskraft vieler kluger Menschen«. Mehr kam nicht.
Es lag in der Natur der Sache, dass die Keynesianer, die sowohl in der Wissenschaft als auch der Politik in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung verloren, vom Kriseneinbruch profitieren konnten. Die Vergabe des Wirtschaftsnobelpreises an Paul Krugman 2008 war das Symbol einer neuen Ära, die aber kaum ein halbes Jahrzehnt andauern sollte und ebenso jämmerliche Ergebnisse zeitigte. Spätestens als die größten staatlichen Konjunkturprogramme der Geschichte nicht den versprochenen neuen Akkumulationszyklus hatten einleiten können, dafür aber die Staatsverschuldung weiter in astronomische Höhen gestiegen war, fiel auch den Keynesianern kaum mehr ein als der Rückzug zu einem »Börsenkeynesianismus« (Robert Brenner), also die Ausschüttung immer billigeren Geldes, dessen Verwandlung in Kapital aber auch weiterhin stockt (Jungle World 24/2014).
So verwundert es kaum, dass auch bis dahin randständige wirtschaftspolitische Ideen eine Renaissance erlebten. Dies galt für die Anhänger neuer Edelmetallstandards genauso wie für die Wachstumskritiker und zuletzt für die Schwundgeldkonzeption Silvio Gesells, die sogar von Gregory Mankiw, einem ehemaligem Berater George W. Bushs, der das bis heute meistverkaufte wirtschaftswissenschaftliche Lehrbuch verfasste, gemeinsam mit seinem Kollegen Brad DeLong aufgegriffen und letztlich von der Europäischen Zentralbank, mit oder ohne Wissen um den theo­retischen Hintergrund, in deren Geldpolitik integriert wurde: Der Negativzins auf Einlagen der Privatbanken lässt das Geld »schwinden«, wenn es nicht als Kredit vergeben wird.

Eine vergleichsweise neue Mode am Rand wirtschaftspolitischer Debatten mit genau gegensätzlichem Ziel ist die Vollgeldkonzeption. Die Idee dahinter ist unkompliziert. Kritisiert wird, dass Banken durch jede Kreditvergabe neues Geld gleichsam aus dem Nichts schaffen können. Denn erst wenn mit dem Kredit reale Transaktionen getätigt werden, benötigt die kreditvergebende Bank Liquidität, die sie sich von anderen Banken oder der Zentralbank gegen Zinsen leiht.
»Die Initiative liegt bei den Banken«, schreibt Joseph Huber, Professor für Wirtschafts- und Umweltsoziologie in Halle und Beisitzer im Vorstand des Vereins Monetative, in dem sich die Kritiker dieses sogenannten Giralgeldsystems zusammengeschlossen haben. Denn, und das ist unbestritten, die Banken schöpften ein Vielfaches des von der Zentralbank gedeckten Geldes, da die Zahlungen ja nicht alle auf einmal fällig werden. Etwa 82 Prozent der Geldmenge würden so künstlich geschaffen, hat der Verein berechnet. Tatsächlich benötigt eine Bank heute durchschnittlich nur drei Prozent der kreditierten Summe als Rücklage. Dadurch wachse die Geldmenge stetig schneller als die Wirtschaftsleistung. »In den 15 Jahren bis zur Finanzkrise 2008 wuchs die Wirtschaft in Deutschland real um 23 Prozent, die Geldmenge M1 aber um 189 Prozent. Kontrolle der Geldmenge sieht anders aus«, heißt es im Grundsatztext der Initiative.
Die Entwicklung, vor der die Anhänger des Vollgeldes Angst haben, ist bekannt und konnte seit den achtziger Jahren tatsächlich mehr als einmal beobachtet werden. Was normalerweise, wie in den siebziger Jahren, zu Inflation, eventuell gar bei fehlendem Wirtschaftswachstum zur berüchtigten Stagflation, führen müsste, kann auch Blasen an den Anlagemärkten hervorrufen. Weil sich für das überschüssige Geld kaum noch pro­fitable Anlagemöglichkeiten finden lassen, fließt es zunehmend in Immobilien und Wertpapiere, deren Preise in schwindelerregende Höhen steigen, die mit den Gewinnerwartungen kaum noch etwas zu tun haben. »Inflation der Anlagepreise« nennt Huber diesen Prozess. »Das geht eine Weile gut«, sagte er der Schweizer Wochenzeitung WOZ, »doch irgendwann platzen die Blasen«. Auch die Staatsverschuldung führt er auf die Ausdehnung der Geldmenge zurück: »Der Staat ist für die Banken der denkbar beste Schuldner, denn er hat das Monopol, Steuern einzutreiben, um seine Schulden zurückzuzahlen.«

Die Lösung sehen Huber und sein Verein in der Entmachtung der Banken bei der Schöpfung fiktiven Kapitals. Sie fordern, »dass die staatlichen Zentralbanken das alleinige Recht erhalten, Geld zu schöpfen, und dafür das derzeitige Giralgeld in Vollgeld zu überführen«. Banken dürften nur dann Kredite vergeben, wenn sie die entsprechende Summe auch wirklich vorrätig hätten, sie also entweder auf Kundeneinlagen oder das Geld, das sie sich bei der Zentralbank geliehen haben, zurückgreifen könnten. »Es geht darum, die Kontrolle über die Geldschöpfung wiederzugewinnen«, heißt es bei Monetative. Denn ein »Staat, der keine Geldhoheit hat, ist kein souveräner Staat«.
Den Nutzen einer solchen Regelung, der zufolge die Zentralbanken die Geldmenge nur entsprechend dem Wirtschaftswachstum ausdehnen dürfen, rechnen die Befürworter relativ konkret vor. Nicht nur könnten die private und öffentliche Verschuldung drastisch eingeschränkt werden, sondern, weil die Notenbanken die Gewinne aus der Geldschöpfung erhalten könnten, auch zusätz­liche Einkünfte für die einzelnen Staaten erzielt werden. Auf 14 bis 42 Milliarden Euro, je nach wirtschaftlicher Entwicklung, schätzt Monetative die Summe, die allein in Deutschland jährlich dem Haushalt zufließen würde.
In der Schweiz sammelt der Verein Monetäre Modernisierung um Hans Christoph Binswanger (Jungle World 24/2014), immerhin der Doktorvater des ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Bank, Josef Ackermann, bereits Unterschriften für eine Volksabstimmung, die den Franken zum Vollgeld machen soll. So unwahrscheinlich ein Erfolg hier auch sein mag, die Initiatoren sind nicht so isoliert, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. 2012 veröffentlichten zwei Ökonomen aus der Forschungsabteilung des Interna­tionalen Währungsfonds (IWF), Jaromir Benes und Michael Kumhof, eine Studie unter dem Titel »The Chicago Plan Revisited«. In ihr bescheinigten die beiden der Vollgeldkonzeption, sie würde die Gefahr von Bankenkrisen reduzieren und das Wirtschaftswachstum befördern. Es sei eine »höchst wünschenswerte Initiative«, heißt es abschließend.
Der Titel der Studie verweist darauf, dass die Idee nicht neu ist. 1933 hatten namhafte Wirtschaftswissenschaftler der University of Chicago um Irving Fisher dem neu gewählten Präsidenten Franklin D. Roosevelt ein Konzept zukommen lassen, das darauf beruhte, die US-Ökonomie nach der Weltwirtschaftskrise auf der Basis einer hundertprozentigen Deckung aller Kredite durch Einlagen bei der Zentralbank zu reorganisieren. »Der Kern der Idee ist es, das Geld unabhängig von Krediten zu machen«, schrieb Fisher damals. »Wir trennen den Prozess der Schaffung und Vernichtung von Geld vom Bankgeschäft ab.« Obwohl die Initiatoren viel Unterstützung bekamen, konnten sie sich nicht durchsetzen, was vor allem am Widerstand der Geschäftsbanken lag. Wenn auch Fishers »100 % Money«, so der Titel seines bekanntesten Buches, sich in Details von den Vollgeldkonzeptionen unterscheidet, so sind die Ähnlichkeiten frappierend.
Glaubt man Benes und Kumhof, zu deren Unterstützern sich auch der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Thomas Mayer, gesellt hat, dann würde eine Wiederaufnahme der Ideen des Chicago-Plans oder auch des Vollgeldes zu »enormen Wohlstandsgewinnen« führen, wie es in ihrer Studie heißt. Um bis zu zehn Prozent könnte die Wirtschaftsleistung steigen, prognostizieren sie.

Bizarr an den Debatten ist, dass sie sich letztlich auf die Frage der Geldmengen beschränken. Während die Neokeynesianer und Anhänger Gesells auf die permanente Flutung mit Geld setzen und im Bündnis mit den bedeutenden Zentralbanken damit das stagnative Hinauszögern noch tieferer Einbrüche durch die Aufrechterhaltung des Konsums anstreben, gibt es immer lautere Stimmen, die mit einem klaren Schnitt die Wiedergeburt eines dynamischen Kapitalismus bewirken, von einer Vernichtung von überflüssigem Kapital aber auch nichts wissen wollen. Sie fordern den Goldstandard, das Vollgeld, das »100 %-Geld« oder eine drastische Erhöhung der Leitzinsen.
Zu der Einsicht, dass mit den Mitteln eines »allgemeinen Äquivalents«, das eben letztlich lediglich als Maßstab für Wert und – darum oszillierend – Preis sowie als Zirkulationsmittel dient, nicht die schon lange währende »Krise der Profitabilität des Kapitals« (Robert Brenner) zu lösen ist, kann oder will kaum jemandem kommen. Möglich, dass auch der Hype unter jüngeren Marxisten um die »monetäre Werttheorie« Michael Heinrichs hierher gehört. Im geldausbrütenden Geld, dem nicht mehr der Makel anhaftet, dass es von der Mehrwert erzeugenden Lohnarbeit produziert werde, so hatte einst Karl Marx polemisiert, erreiche das »Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form«. Dies ist die derzeitige Basis der gestiegenen Vorstellungskraft vieler kluger Menschen, wie sie die bürgerliche Gesellschaft hervorbringt.