An der europäischen Südgrenze nimmt die Gewalt gegen Migranten zu

Zwei Tage im August

Mitte August landeten innerhalb von zwei Tagen so viele Flüchtlinge aus Afrika wie nie zuvor in solch kurzer Zeit an der spanischen Südküste. Jüngst veröffentlichte Videos dokumentieren zudem die Gewalt am Grenzzaun in Melilla.

Princesa, die Prinzessin, ist fast schon ein kleiner Medienstar in Spanien. Das zehn Monate alte Mädchen war Mitte August ohne Begleitung in einem kleinen Schlauchboot an der spanischen Südküste bei Tarifa gestrandet. Ihre Eltern hatten wegen Problemen mit der marokkanischen Polizei offenbar das Auslaufen des Bootes verpasst, so dass Fátima, wie das Mädchen wirklich heißt, während der Überfahrt durch die Straße von Gibraltar auf sich gestellt war.
Zusammen mit ihr waren innerhalb von zwei Tagen über 1 000 Flüchtlinge nach Spanien gekommen, so viele wie nie zuvor in so kurzer Zeit. Marokko hatte seine Grenzkontrollen sowohl an der Küste als auch auf offenem Meer für zwei Tage komplett eingestellt und zuvor die im Land auf die Überfahrt wartenden Flüchtlinge darüber informiert, wie Augenzeugen berichteten. »Ihr habt 48 Stunden«, so die Ansage der marokkanischen Ordnungskräfte. Als die Nachricht sich verbreitete, machten sich Hunderte auf den Weg, um die Gelegenheit zu nutzen. 1 219 Flüchtlinge in 125 Booten zählte das spanische Rote Kreuz alleine am 11. und 12. August.
Auf diese Weise wurde Marokko einen Schwung der unbeliebten Transitflüchtlinge los, von denen sich Schätzungen zufolge an die 30 000 im Land aufhalten. »Was macht man, wenn die Badewanne kurz vorm Überlaufen ist? Man öffnet ein wenig den Stöpsel, damit nicht alles überflutet«, zitierte die spanische Tageszeitung El País einen Beamten aus Sicherheitskreisen. Zugleich konnte Marokko dem Nachbarland Spanien verdeutlichen, wer bei der europäischen Flüchtlingsbekämpfung am längeren Hebel sitzt. Am 13. August beruhigte sich die Lage wieder, zuvor hatte es intensive Gespräche und Verhandlungen zwischen Spanien und Marokko gegeben. Anschließend gab der marokkanische Innenminister Mohamed Hassad zu, dass es »Funktionsstörungen« beim Grenzschutz gegeben habe, während das spanische Innenministerium unter ­anderem das »gute Wetter« für die Situation verantwortlich machte. Die spanische Regierung entsandte 475 weitere Beamte an die Grenze.

Andere Bilder, die derzeit die spanische Öffentlichkeit beschäftigen, sind weniger rührend als das der kleinen »Prinzessin«, zeigen sie doch ein weiteres Mal die Brutalität des europäischen Grenzregimes: Auf ihnen sieht man, wie Dutzende Flüchtlinge über Stunden in sechs Metern Höhe auf den mit Stacheldraht umwickelten Zäunen der spanischen Exklave Melilla ausharren, während sie von marokkanischen Grenzpolizisten mit Steinen beworfen werden. Diejenigen, die fallen oder von Polizisten heruntergezogen werden, werden unverzüglich mit langen Holzknüppeln geschlagen. Die Videos wurden bereits im Juni aufgenommen, aber erst jetzt von der spanischen Menschenrechtsorganisation Prodein ver­öffentlicht. In einer Sequenz sieht man marokkanische Polizisten, die minutenlang auf bereits am Boden liegende Flüchtlinge einprügeln, bis sich diese nicht mehr bewegen. Im Anschluss durchsuchen die Beamten die Taschen. Prodein spricht von mindestens vier Toten. Der Skandal im Skandal: Dies alles passierte auf spanischen Boden, vor den Augen der spanischen Beamten. Mittlerweile hat ein Richter aufgrund des Videos Ermittlungen eingeleitet.
Vergangene Woche wurden nun weitere Videos veröffentlicht, auf denen erneut marokkanische Beamte zu sehen sind, wie sie auf der spanischen Seite des Zauns Flüchtlinge mit Knüppeln und Tritten malträtieren. Die Aufnahmen stammen von Mitte August, als es durch die ausgesetzten Kontrollen auch zu einem erneuten Ansturm auf den Grenzzaun in Melilla gekommen war. In nur 72 Stunden versuchten 1 600 Flüchtlinge, die Zäune zu überwinden. Der Organisation Prodein zufolge kamen dabei sechs Menschen ums Leben und über 50 wurden verletzt, zehn von ihnen schwer.

Auf den Aufnahmen sind auch die sogenannten push-backs zu beobachten: Migranten, die es über den Zaun geschafft haben, werden unter Fußtritten und Schlägen direkt durch eine große Tür im Zaun wieder auf marokkanisches Gebiet geschafft – wo die nächsten Polizeieinheiten auf sie warten. Diese Praxis wird – auch ohne die sie begleitende Gewalt – bereits seit langem als rechtswidrig kritisiert, da sie die vorgeschriebene Prüfung eines möglichen Anspruchs auf Asyl der Flüchtlinge verhindert. Der spanische Innenminister Jorge Fernández Díaz hat für diese Kritik kein Verständnis. Nach Spanien reise man »durch die Tür, nicht durchs Fenster« ein, so die zynische Antwort des Ministers. Wegen der jüngsten Videos verlangt jetzt auch Human Rights Watch eine Untersuchung der Vorfälle. »Das Recht Spaniens, seine Grenzen zu schützen, gibt dem Land keinen Freibrief, Migranten zu misshandeln«, so die Organisation. Auch die Europäische Kommission meldete sich Mitte August zu Wort und forderte Spanien auf, beim Grenzschutz auf die »Ausgewogenheit« der Mittel zu achten sowie die Grundrechte und Menschenwürde der Verfolgten zu respektieren. Bereits im Februar hatte die EU-Kommission die staatliche Gewalt an der europäischen Südgrenze beklagt. Damals ging es um den Einsatz von Gummigeschossen gegen Flüchtlinge in der spanischen Exklave Ceuta, in dessen Folge 15 Migranten ertranken.
Die spanische Regierung steht aufgrund der Veröffentlichungen unter Druck. Jedoch sorgt sie sich mehr um das Ansehen ihrer Sicherheitskräfte als um das Wohl der Flüchtlinge. Die Regierungsvertretung in Melilla sprach von »böser Absicht«, die hinter den Videos stecke. Sie zeigten nur Ausschnitte und nicht die vielen Momente, in denen die »Menschlichkeit und Behutsamkeit« der Guardia Civil beim Grenzschutz zum Ausdruck komme, so der Sprecher Abdal-Malik al-Barkani, der seine »absolute Unterstützung« der Grenzbeamten betonte.

Aber nicht nur an den Grenzzäunen verschlechtert die Lage zusehends. Vergangene Woche kam es im Stadtteil Boukhalef der marokkanischen Hafenstadt Tanger, in der viele Migrantinnen und Migranten auf ihre Überfahrt nach Europa warten, zu pogromartigen Ausschreitungen. Die Flüchtlinge, zum größten Teil aus dem subsaharischen Afrika, wurden von etwa 50 Angreifern mit Steinen, Knüppeln und Macheten verletzt. Ein Migrant berichtete dem spanischen Radiosender Cadena Ser, dass Häuser in Brand gesteckt und Frauen vergewaltigt worden seien. Danach seien die Frauen in Bussen abtransportiert worden, niemand wisse wohin. Die Vorfälle haben es bis in deutsche Zeitungen geschafft, wohl aber nur, weil auch eine Spanierin davon betroffen war. Helena Maleno von der Organisation Caminando Fronteras wurde gemeinsam mit Flüchtlingsfrauen aus einem Bus gezogen, beleidigt und körperlich bedrängt. »Ich dachte, sie töten mich«, so Maleno, die nur aufgrund der Hilfe anderer Flüchtlinge dem offenbar organisierten Mob entkommen konnte. Auch in diesem Fall stand die marokkanische Polizei daneben, ohne einzugreifen. Wie oft solche Gewaltexzesse gegenüber den recht- und schutzlosen Flüchtlingen mit Duldung oder gar mit Unterstützung der Polizei stattfinden, lässt sich nur erahnen. Menschenrechtsorganisationen erreichen täglich Berichte von Gewalt, sexuellen Übergriffen und Folter von Flüchtlingen in Marokko – im Dienste des europäischen Grenzschutzes. Das humanistische Selbstbild Europas soll aber wenigstens im Falle Fátima aufrecht erhalten werden. Nachdem Kontakt zu den Eltern in Marokko hergestellt werden konnte, wollen die Behörden nun die Familie wieder zusammenführen. Ob dafür die Eltern nach Spanien geholt werden oder das Kleinkind abgeschoben wird, wurde indes nicht gesagt.