Die bolivianische Regierung hat an Progressivität eingebüßt

Der Weg zum indigenen Kapitalismus

Bei den Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag in Bolivien wird der amtierende Präsident Evo Morales mit seiner Regierungspartei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) höchstwahrscheinlich erneut gewinnen. Aber Morales ist weniger sozialistisch, als er vorgibt.

Kurz vor der Präsidentschaftswahl am 12. Oktober will in Bolivien nicht so recht Wahlstimmung aufkommen. Für viele Bolivianerinnen und Boli­vianer müssen die zahlreichen Wahlaufrufe, die die Straßen säumen, wie eine unnötige Ablenkung vom Alltag wirken. Denn ändern wird sich bei der Wahl wohl kaum etwas. Das zumindest sagen die jüngsten Prognosen, die den amtierenden Präsidenten Evo Morales Ayma bei 59 Prozent der Stimmen sehen. Eine ernstzunehmende Opposition, die seine Regierungspartei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) herausfordern könnte, existiert derzeit nicht. Der aussichtsreichste Gegenkandidat, Samuel Doria Medina von der »Demokratischen Union« (UD), liegt bei nur 13 Prozent, Tendenz sinkend. Der derzeitige Prä­sident wird also auch der zukünftige sein, zumal der Kandidat mit den meisten Stimmen, sollte er nicht die absolute Mehrheit erreichen, lediglich zehn Prozentpunkte vor dem Zweitplatzierten liegen muss.
Trotzdem ließ es sich der bekennende Frühaufsteher Morales vorige Woche nicht nehmen, um fünf Uhr morgens Flugblätter an der meistfrequentierten Mautstation des Landes zwischen La Paz und El Alto zu verteilen. Gerne präsentiert sich der ehemalige Kokabauer als erster indigener Präsident Boliviens. Allerdings gab es einige boli­vianische Staatsoberhäupter indigener Herkunft vor ihm. Neu ist zweifelsohne das indigene Selbstverständnis der Regierung, durch das sich das Land seit 2006 erheblich verändert hat.

Ein Meilenstein in der Anerkennung der indigenen Realität war die Verfassungsänderung 2009 und die Neudefinition Boliviens als »plurinationaler Staat«, mit der die systematische Diskriminierung von Indigenen endete und Demokratisierung, Gleichberechtigung und Selbstregierung zu Leitprinzipien erhoben wurden. Im Ausland lässt Morales kaum eine Gelegenheit aus, sich als Gegner des Kapitalismus und indigener Kämpfer gegen den kolonisierenden Westen zu stilisieren. So erst vor 14 Tagen, als er auf der ersten Konferenz indigener Völker der Vereinten Nationen in New York die Eröffnungsrede hielt. In dieser kri­tisierte er das kapitalistische System als »Modell, das menschliches Leben und Mutter Erde auslöscht« und daher im Widerspruch zu den Prinzipien indigener Bewegungen stehe. Dabei ist Mo­rales’ MAS keineswegs so indigenistisch und antikapitalistisch, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Dass der 54jährige Verfechter des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« unangefochten die Nummer eins im Land ist, liegt auch daran, dass er seinen Einfluss auf ehemals oppositionelle Sektoren ausweiten konnte. Morales hat seinen Schrecken als Sozialist verloren, die Mittel- und Oberschichten haben mittlerweile erkannt, dass es weniger Interessenkonflikte mit der derzeitigen Regierung gibt als angenommen. Der MAS ist ein Integrationsprojekt, bei dem in der letzten Legislaturperiode auch oppositionelle Unternehmergruppen aus Santa Cruz mit Zugeständnissen eingebunden wurden. In der gleichnamigen Provinz im Südosten, wo der größte Teil der Wirtschaftsleistung des Landes generiert wird und die stets sehr regierungskritisch war, kommt »Evo« mittlerweile auf 50 Prozent der Stimmen.
Insgesamt geht es der Wirtschaft, wie kürzlich selbst der Internationale Währungsfonds feststellte, gut. Die makroökonomischen Daten unterstreichen diese Tendenz: Seit 2006 stieg das Bruttoinlandsprodukt jährlich um fünf Prozent, die Gehälter erhöhten sich im Schnitt um 127 Prozent und die Exporteinnahmen verfünffachten sich in diesem Zeitraum. Die Arbeitslosigkeit befindet auf einem historischen Tiefstand und dank der intensiven Ausbeutung der Bodenschätze und der Verstaatlichung der Schlüsselindus­trien konnte der Staat verschiedene Sozialprogramme auflegen. Studierende, Rentner, Frauen und Schwangere können nun auf Unterstützungsleistungen zurückgreifen, die vorher nicht existierten. Einen Aufschwung nahm zudem die Bauindustrie und auch die Landverteilung hat in dem Andenstaat durch die massenhafte Vergabe von Besitztiteln an Kleinbauern eine neue Qualität gewonnen. Die ländliche und urbane Armut sind seit dem Amtsantritt von Morales um gut ein Drittel reduziert worden. Der Blick auf die Zahlen legt nahe, dass die Politik der vergangenen Jahre durchaus dem Anspruch des omnipräsenten Slogans »Bolivien verändert sich, Evo schaffts« entspricht.

Allerdings mutet die jüngste Kritik von Morales in New York bei genauerer Betrachtung des Regierungsprojekts fast schon ironisch an, da die Konflikte zwischen Kapitalinteressen und indi­genen Bevölkerungsgruppen in Bolivien immer augenscheinlicher werden. Gerade das extraktivistische Entwicklungsmodell, die Fokussierung auf die Ausbeutung der Primärgüterressourcen, das die Regierung Morales fast nahtlos von den Vorgängerregierungen übernommen hat, gerät in Widerspruch zu den Grundsätzen der plurinationalen Verfassung. Nach dieser liegt die Verfügungsgewalt über die auf kommunitärem Land befindlichen Bodenschätze bei den indigenen Gemeinden. Dennoch versucht der staatliche Energiekonzern YPFB sich immer wieder darüber hinwegzusetzen.
Der sichtbarste einer Reihe von Konflikten ist der um den geplanten Bau der Bundesstraße 21, mit der die Anbindung an Brasilien und damit die wirtschaftliche Entwicklung gestärkt werden soll. Seit mehreren Jahren verhindern Proteste von indigenen Gruppen, dass die Trasse durch das traditionelle indigene Gemeindeland und Naturschutzgebiet fertiggestellt wird. Die Protestierenden wurden mehrfach brutal von Polizeieinheiten vertrieben, es kam zu zahlreichen Verletzten. Bis zum kommenden Jahr wird nicht weitergebaut. Frühere Präsidenten hätten angesichts der Repression massive Aufstände fürchten müssen, aber heute sind viele der damaligen Aufständischen entweder mit der Regierung verbündet oder sie werden konsequent durch Regierungsfunktionäre stigmatisiert und als Imperialisten denunziert.

Der »Sozialismus« des MAS zeichnet sich durch ein eigenwilliges Verhältnis zum Kapitalismus aus. Ende vergangenen Jahres äußerte Morales sich gegenüber der linken argentinischen Zeitschrift Sudestada zur Frage der heranreifenden kapitalistischen Elite von Aymara-Indigenen: »Wir brauchen eine andere, große Unternehmerklasse.« Dahinter steht die Überlegung, dass nationales Großkapital Investitionen und Indus­trialisierungsanstrengungen in Bolivien sicherstellen soll, nachdem sich internationale Unternehmen immer mehr zurückgezogen haben. Der linke bolivianische Intellektuelle Luis Tapia Mealla kritisiert diesen Kurs als »eindeutig kapitalistisches Projekt« und sieht den MAS insgesamt im Verfall. So seien viele Indigene der insgesamt 36 von der Verfassung anerkannten Bevölkerungsgruppen, die nicht den beiden größten Bevölkerungsgruppen der Aymara und Guaraní angehören, systematisch aus der Regierung ausgeschlossen worden. Weiterhin sei die Allianz aus Partei und sozialen Bewegungen längst von Seiten der Regierung aufgekündigt worden. »Der MAS betreibt eine Desorganisierung der sozialen Bewegungen, um regieren zu können«, bemerkte er unlängst in einem Radiointerview. Durch die Spaltung der Allianz aus indigener Bewegung und staatstragender Gewerkschaftsbewegung, die Grundlage für die Verfassungsänderung 2009 war, werde die Möglichkeit für Veränderung verbaut. Ob die jüngsten regierungskritischen Abspaltungen der großen Gewerkschaftsverbände für eine Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sorgen, wird sich zeigen – aber diese würde so oder so erst nach den anstehenden Wahlen kommen, die nichts verändern werden.