Rafael Puente Calvo im Gespräch über die Erfolge und Versäumnisse des bolivianischen Präsidenten Evo Morales

»Nicht nur in Beton investieren«

In Bolivien wurde der amtierende Präsident Evo Morales von der Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS) bei der Präsidentschafts­wahl am 12. Oktober mit 61,04 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Aufgrund seiner unternehmerfreundlichen Politik werden er und der MAS jedoch mittlerweile von einigen Linken kritisiert (Jungle World 41/2014). Der ehemalige Jesuit Rafael Puente Calvo (74) war Abgeordneter des MAS und stellvertretender Innenminister unter Morales. Inzwischen ist er einer der prominentesten linken Kritiker der Regierung. Er leitet eine alternative Schule nahe Cochabamba und moderiert eine Fernsehsendung. Mit ihm sprach die Jungle World über die Erfolge und Versäumnisse der Regierung Morales.

Sind Sie mit dem Ergebnis der Wahlen zufrieden?
Dass die Regierung von Evo Morales gewonnen hat, ist unstrittig, auch wenn es nach den Wahlen Beschwerden über Wahlmanipulation gegeben hat. Verantwortlich dafür wird die Wahlkommission gemacht, die sich ausgesprochen schlecht und ineffektiv präsentiert hat. Doch selbst wenn alle diese Vorwürfe wahr sein sollten, wäre an dem Wahlergebnis nicht zu rütteln – vielleicht hätte die Regierung dann zwei Prozentpunkte weniger an Stimmen.
Immerhin wäre sie dann etwas weiter von einer Zwei-Drittel-Mehrheit entfernt.
Das ist richtig. Jetzt ist sie nah dran an der Zwei-Drittel-Mehrheit. Ein wesentlicher Grund ist, dass die erste Amtszeit von Evo Morales bahnbrechend war und seine Regierung viele wichtige Entscheidungen getroffen hat, während die zweite Regierungsperiode doch recht inkonsequent ausgefallen ist.
Ohne Frage war die Nationalisierung der Gasreserven ein Meilenstein, auch wenn die Regierung heute den großen Unternehmen wieder mit Zugeständnissen entgegenkommt. Mit der Übernahme der Hoheit über die Gasreserven hat die Regierung die Grundlage für eine ökonomisch extrem erfolgreiche Phase gelegt, denn Bolivien verfügt über relativ große Reserven, kann eigene Investitionen tätigen und steht so gut da wie niemals zuvor. Das ist unstrittig und Bolivien ist wirtschafts- und finanzpolitisch so stabil wie noch nie. Das ist auch ein wesentlicher Grund, weshalb viele Leute Morales gewählt haben – sie wollten die ökonomische Stabilität nicht gefährden. Hinzu kommt, dass er als Führungspersönlichkeit in Bolivien derzeit keine Konkurrenz hat.
Welche Rolle spielen die Integration der indigenen Bevölkerungsgruppen, das Ende der Diskriminierung, die Durchsetzung von Gesetzen gegen Rassismus und die neue Verfassung, die festlegt, dass Bolivien ein »plurinationaler Staat« ist?
Das sind historische Entscheidungen, die nicht mehr zurückgenommen werden können. Die Indigenen Boliviens haben ihre Würde zurückgewonnen, sind nicht mehr Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse, das wird immer mit dem Namen Evo Morales verbunden sein.
Hat die Sozialpolitik der Regierung die Inklusion der indigenen Bevölkerungsmehrheit erleichtert?
In der Sozialpolitik sind es in erster Linie drei Maßnahmen, die die Regierung vorzuweisen hat: der Bono Juancito Pinto, ein Zuschuss, der einmal im Jahr an Schüler und Studenten ausgezahlt wird, der Bono Juana Azurduy, eine Art Haushaltszuschuss für alle Schwangeren und jungen Mütter sowie die Renta Dignidad, eine Altersrente für alle. Diese drei Programme zeigen, dass es sich die Regierung leisten kann, Geld nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen – egal, ob die Leute den Zuschuss brauchen oder nicht. Diese Programme sind auch ein Beleg dafür, wie gut es der Regierung beziehungsweise Bolivien derzeit geht. Das hat es noch nie gegeben.
Klingt ausgesprochen positiv, aber hat es Sie nicht überrascht, dass die Bewegung zum Sozialismus (MAS) auch in Santa Cruz gewonnen hat? Das ist ein Departamento im Tiefland, in dem viele Nicht-Indigene leben und das noch vor ein paar Jahren als Hochburg der konservativen Opposition galt.
Das ist alarmierend, hat aber seine Gründe. Santa Cruz ist sicherlich der ökonomisch wichtigste Verwaltungsbezirk des Landes und Tarija (anderer Verwaltungsbezirk im Tiefland, in dem die konservative Opposition stark war, Anm. K.H.) ist auch wichtig. Die Gründe für den Wählerumschwung in beiden Bezirken sind die Abkommen zwischen dem MAS und den konservativen Eliten dieser Region. Ein Beispiel dafür ist das Abkommen zwischen dem MAS und der ADN (Acción Democrática Nacionalista), der Partei, die vom ehemaligen Diktator Hugo Banzer gegründet wurde. Entscheidend ist die Unterzeichnung von Abkommen mit den Soja- und Zuckerproduzenten und den großen Holzunternehmen – der ökonomischen Elite des Tieflands, die Morales 2007 und 2008 vehement bekämpft hatte. Nun ist man diesen Großgrundbesitzern entgegengekommen, so weit, dass das mit der Verfassung nicht mehr vereinbar ist und auch nicht mit dem Konzept der Verteidigung von »Mutter Erde«.
Sie meinen die Ausdehnung der Landwirtschaftsgrenze, die von der Regierung beschlossen wurde, um angeblich mehr Nahrungsmittel in Bolivien zu produzieren?
Ja, genau. Das ist der Freifahrtschein, um weitere zehn Millionen Hektar des Regenwaldes abzuholzen, der uns noch geblieben ist. Aber nicht, um mehr Lebensmittel zu produzieren, sondern mehr Soja und zwar gentechnisch verändertes Soja anzubauen. Diese gentechnisch veränderten Sojapflanzen sorgen für eine deutlich schnellere Auslaugung der Böden – aus meiner Sicht ist das eine sehr fragwürdige Politik.
Der Wahlsieg ist also auch ein Sieg der Bündnispolitik des MAS?
Ja, einerseits. Er spiegelt aber andernseits die Schwäche der Opposition wider, die keinen starken Kandidaten präsentieren konnte. Die beiden konservativen Parteien haben sich gegenseitig bekämpft und auf der anderen Seite sind nur die Grünen zu erwähnen. Die landeten bei etwa drei Prozent. Dort haben sich viele gesammelt, die mit Morales’ Politik nicht zufrieden sind. Doch Morales setzt sich permanent in Szene: mit der Einweihung von öffentlichen Einrichtungen, Schulen, Brücken, etc. Das kommt bei der Bevölkerung gut an, wenn ständig betoniert, gebaut und asphaltiert wird. Aber es wird vergessen, dass wir mehr Investitionen in das Bildungs- und Gesundheitssystem benötigen. Wir müssen in die Köpfe investieren, nicht nur in Beton.
Fehlt es nicht auch an produktiven Investitionen, um Arbeitsplätze zu generieren?
Exakt, doch das Problem ist, dass das in Bolivien nicht hinterfragt wird. Der Unterschied zwischen einer produktiven Investition und einer unproduktiven wird nicht gesehen. Es ist gut, dass Fußballplätze eingeweiht werden, dass Sportstätten entstehen, aber wir müssen auch in die Landwirtschaft investieren, die Nahrungsmittel produziert, in Werkstätten und Fabriken. Wir produzieren in Bolivien heute noch nicht einmal unsere eigenen Bleistifte.
Liegt das auch an Lobbyisten, deren Zahl mit den Wahlen weiter zugenommen haben dürfte?
Das kann sein, denn politische Bündnisse hat der MAS viele geschlossen. Mit den Transportarbeitern, den Genossenschaften im Bergbau, den Handelsorganisationen, den schon erwähnten Vertretern der Agrarlobby, aber die haben alle ihre Eigeninteressen im Blick. Das ist alles andere als fortschrittlich und einer Politik des Machterhalts geschuldet.
Gleichwohl nennt die Regierung doch »nachhaltiges Wirtschaften«, das Konzept des »guten Lebens« und den Erhalt von »Mutter Erde« als Prioritäten. Gerät das ins Hintertreffen?
Ja, denn viele der Allianzen sind ökonomischer Natur und nicht politischer und der Schutz von »Mutter Erde« steht – obwohl ideologisch sehr wichtig – längst weit im Hintergrund. Ich denke, dass die Exportorientierung im Widerspruch steht zur Forderung nach Nahrungsmittelsouveränität, mit der Morales 2005 angetreten ist. Davon sind wir heute weit entfernt. Wir importieren von Jahr zu Jahr mehr; bei Weizen ist das besonders problematisch, denn wir produzieren nur 20 Prozent des konsumierten Getreides. Auch beim Konsum von Früchten und Gemüse ist der Anteil dessen, was wir selbst produzieren, rückläufig und das sollte sich ändern.
Bolivien, haben Präsident Morales und Wirtschaftsminister Luis Alberto Arce erklärt, soll zur energetischen Drehscheibe Lateinamerikas werden und Energie nach Brasilien, Chile und Argentinien liefern. Ist das ein sinnvolles Konzept?
Es folgt dem Exportparadigma und steht im Widerspruch zum Erhalt der Natur, denn die Energieproduktion basiert eben nur zum Teil auf regenerativen Energieträgern. Derzeit wird vor allem Erdgas exportiert, zusätzlich sollen große Wasserkraftwerke gebaut werden. Doch sie können zu großen Überschwemmungen durch Rückstau führen, wie im Frühjahr im Verwaltungsbezirk Beni. Die großen Staudammprojekte sind sehr umstritten und bergen aus meiner Sicht große Risiken. Aber in Bolivien wird gern auf Großprojekte gesetzt.
Selbst Atomenergie ist nicht tabu.
Richtig, man will mit iranischer Technik in der Nähe von La Paz für 600 Millionen US-Dollar ein Atomkraftwerk bauen – das ist Selbstmord, wenn man sieht, dass Japan es nicht geschafft hat, die Meiler zu kontrollieren und Deutschland sich von der Technologie verabschiedet. Zudem muss man wissen, dass Bolivien in einer Erdbebenzone liegt.
Sie haben gerade in La Paz an einer Tagung zur Situation der Nichtregierungsorganisationen teilgenommen – gibt es Probleme?
Ja, es gibt gravierende Probleme, denn seit einiger Zeit versucht die Regierung, die NGOs und deren Aktivitäten zu kontrollieren. Es gibt eine ganze Reihe von Dekreten und Gesetzen, um den Zu- und Abfluss der Mittel en detail zu überprüfen. Die NGOs, die sich für die Regierung engagieren, werden unterstützt; wer nicht folgsam ist, dem werden hingegen Knüppel zwischen die Beine geworfen. Das geht bis zur Ausweisung, wobei das eher Organisationen betrifft, die landesweit agieren und nicht solche, die nur in einem oder zwei der neun Verwaltungsbezirke agieren.
Zudem hat die Regierung deutlich gesagt, dass jedwede ausländische Organisation, die Projekte oder Organisationen unterstützt, die nicht mit der Position der Regierung übereinstimmen, mit Konsequenzen zu rechnen habe.
Wo sehen Sie wichtige Herausforderungen für die Zukunft?
Die Gesundheitsversorgung ist schlechter geworden, da muss mehr passieren. Und der sinkende Erdölpreis wird über kurz oder lang auch die Einnahmen Boliviens reduzieren, wodurch die Regierung weniger Investitionsmittel zur Verfügung hätte.