Wunder im Fußball

Bedingt wundervoll

Fußballwundern folgt oft ein böses Erwachen – das mussten vom SV Werder bis hin zum FC St. Pauli schon viele Vereine erfahren. Eine Abrechnung mit der Wunderei.

Als am 8. Dezember 1993 der RSC Anderlecht zum zweiten Spieltag der Gruppenphase der Champions League nach Bremen anreiste, war schwer zu sagen, welches Team nun Favorit war. Immerhin war der SV Werder amtierender Meister einer der stärksten Ligen Europas. Im Ligaalltag lief es jedoch in der neuen Saison nicht so gut, nach 19 Spieltagen stand der Verein nur auf dem siebten Platz der Tabelle. Außerdem hatten die Bremer zwei Wochen zuvor gegen den FC Porto mit 2:3 verloren und dabei noch schlechter gespielt, als es das Ergebnis eigentlich vermuten ließe. Anderlecht dagegen war in diesen Jahren noch vor dem FC Brügge das dominierende Team im belgischen Fußball und hatte dem Favoriten AC Mailand immerhin ein tor­loses Unentschieden abgetrotzt.
Auch auf dem Rasen sah es an diesem kühlen Abend im Weserstadion lange Zeit so aus, als würde der SV Werder die zweite Klatsche im zweiten Spiel kassieren und damit das Weiterkommen praktisch abhaken können. Bereits in der 16. Minute brachte Philippe Albert die Gäste nach einer Ecke mit einem Schuss aus der zweiten Reihe in Führung und nur zwei Minuten später erhöhte Danny Boffin nach einem Konter auf 2:0. In der 33. Minute setzte der belgische Nationalspieler sogar noch einen drauf und markierte durch einen herrlichen Distanzschuss in den Winkel den 3:0-Pausenstand.
Auch nach Wiederanpfiff wirkte es lange Zeit nicht so, als würde sich am Spielverlauf noch Entscheidendes ändern. Was die 29 000 Zuschauer im Stadion und die Millionen vor den Fernsehbildschirmen geboten bekamen, war bestenfalls durchschnittliche Kickerei. Doch dann bediente Dieter Eilts, der eigentlich eher für die Defensive zuständig war, in der 66. Minute Wynton Rufer und der legte den Ball an Torwart Filp de Wilde vorbei ins Tor. Auch sechs Minuten später sah der Torhüter nicht gut aus, als er an einer Flanke von Dietmar Beiersdorfer vorbeisegelte und so Rune Bratseth ungehindert zum Kopfball kommen ließ, der zum Anschlusstreffer führte. Spätestens jetzt war es ein klasse Spiel, jedenfalls für Werder-Fans. Als dann Bernd Hobsch in der 80. Minute ebenfalls per Kopf den Ausgleich erzielte und nur vier Minuten später Marco Bode seinen Verein sogar in Führung brachte, schien die Sensation bereits perfekt. Doch dann tauchte plötzlich der eingewechselte Luc Nilis am Strafraum der Bremer auf und zog ab. Viele Torhüter hätten gegen den Schuss des späteren Torschützenkönigs der niederländischen Eredivisie keine Chance gehabt, es passte jedoch zur Dramaturgie des Abends, dass Oliver Reck im Tor des SV Werder den Ball noch gerade so abwehren konnte. Mit Rufer erzielte dann derjenige, mit dessen Tor die Aufholjagd begonnen hatte, in der 89. Minute nach Vorlage von Andre Wiedener das 5:3. Der Rest ist Geschichte.
Schnell war in den Zeitungen vom »Wunder von der Weser« zu lesen, nachdem nur rund ­einen Monat zuvor bereits das »Wunder vom Wildpark« ausgerufen worden war. Damals hatte der Karlsruher SC den FC Valencia nach einem 1:3 im Hinspiel mit einem 7:0 im Rückspiel noch überraschend deutlich das Achtelfinale des Uefa-Pokals erreicht. Alleine vier Tore hatte der heute außerhalb Karlsruhes weitgehend vergessene Edgar Schmitt beigesteuert.
Geschichten wie diese passten gut in das neuartige Vermarktungskonzept, das gerade dabei war, sich im deutschen und europäischen Fußball durchzusetzen. Seit Beginn der Vorsaison präsentierte Sat.1 die Bundesliga in einem neuen Sendeformat namens »Ran« und der Europapokal der Landesmeister war durch die Champions League ersetzt worden, in der es dank einer in Gruppen ausgespielten Zwischenrunde mehr Spiele zu zeigen und zu vermarkten gab. Bereits eine Saison zuvor hatte der Pay-TV-Sender Premiere damit begonnen, einzelne Spiele der Bundesliga live zu übertragen. Wohin all das noch führen würde und wie weitreichend die Veränderungen durch den »modernen Fußball« sein würden, war im Dezember 1993 noch nicht abzusehen. Aber Spiele wie das zwischen Bremen und Anderlecht gehörten zu den ersten, anhand derer das neue Paradigma vom Fußball als Event exemplarisch durchexerziert wurde.
Gleich zwei Songs mit dem Titel »Wunder von der Weser« wurden im Lauf der nächsten Jahre im Umfeld des SV Werder produziert – eine softrockige Stadionhymne und ein skurril schlechtes Stück Rapmusik. Sicher, das Spiel gegen Anderlecht war nicht das einzige Spiel im Weserstadion, das in die Kategorie Sensa­tion passen würde, es war jedoch das erste im Zeitalter des »modernen Fußballs« und hat sich daher in besonderem Maße in das popkulturelle Gedächtnis der Fußballfans ein­geprägt.
Völlig in Vergessenheit geriet dabei, dass für den SV Werder das, was nach diesem glorreichen Abend kam, weit weniger wundervoll war. Im März darauf schied der Verein aus der Champions League nach einem erschütternden 0:5 zu Hause gegen Porto als Gruppendritter aus. Auch für Karlsruhe folgte auf das »Wunder« im April darauf ein extrem bitterer Abend vor heimischem Publikum, als der Verein im Rückspiel des Uefa-Pokal-Halbfinales gegen Austria Salzburg nach einem 0:0 im Hinspiel denkbar knapp mit 1:1 ausschied.
Das wohl am stärksten zum Wunder stilisierte Ereignis der deutschen Fußballgeschichte ist das sogenannte Wunder von Bern 1954. Doch das eben noch umjubelte Team verlor im Anschluss an das WM-Finale gleich drei Spiele in Folge und sammelte bis Ende 1956 insgesamt schockierende zwölf Niederlagen. Nie wieder bis zum heutigen Tage sollte eine DFB-Auswahl eine derart negative Serie hinlegen.
Dass auf Wunder oft ein böses Erwachen folgt, weiß man auch beim FC St. Pauli. Im Februar 2002 besiegte dessen Elf sensationell den Weltpokalsieger Bayern München mit 2:1 und schlachtete dieses Ereignis mit einer präzedenzlosen Marketingoffensive bis zum Erbrechen aus. Am Ende der Saison jedoch stieg das Team, das nach dem großen Abend nur noch sieben Punkte holte, sang- und klanglos, aber völlig zu Recht als abgeschlagener Tabellenletzter ab. Neun Jahre später wiederholte sich das Schauspiel. Im Februar feierte man noch den 1:0-Derbysieg beim Hamburger SV, danach gab es zwölf Niederlagen in 13 Spielen und am Ende ging es wieder als Tabellenletzter verdientermaßen zurück in Liga zwei.
Wunder im Fußball, das sind oft nur Momente. Manchmal reicht ein solcher Moment, weil er just im Finale oder am letzten Spieltag der Saison geschieht, um aus dem großen Augenblick etwas Greifbares – einen Titel oder wenigstens den Klassenerhalt – zu machen, oft jedoch folgt auf das rauschende Fest der graue Alltag. Auch Werder kam drei Tage nach dem großen Spiel gegen Anderlecht beim VfB Leipzig, wie Lokomotive Leipzig damals hieß, nicht über ein 1:1 hinaus. Auch hier war der Gegner dank des 1:0 von Uwe Bredow mit einer Führung in die Kabine gegangen, der Ausgleich durch Bernd Hobsch wurde jedoch von niemandem als Wunder bezeichnet. Für Bredow war es das letzte Tor seiner Karriere. Am Ende der Saison hängte er seine Fußballschuhe nach 13 Jahren und 285 Spielen für Leipzig an den Nagel. Auch eine tolle Geschichte, aber es kommt halt kein Wunder darin vor.