Eine neue Studie über Antisemitismus im Iran

Persische Protokolle

Eine neue Studie beschäftigt sich mit dem Antisemitismus im Iran.

Selten genug kommt bei einer wissenschaftlichen Qualifizierungsarbeit etwas Sinnvolles heraus. Allzu oft merkt man den Autoren das Desinteresse an ihrem Gegenstand und ihren eigenen langwierigen Ausführungen an, die sie durch ein paar in aller Regel wenig originelle Neologismen, in der Hoffnung in Erinnerung zu bleiben, und mit den Schlagworten der gerade modischen akademischen Theorien aufzupeppen versuchen. Ulrike Marz zeigt in ihrer umfassenden Studie über den iranischen Antisemitismus, dass es auch anders geht. Hier schreibt eine Autorin, die sich in ihrer Dissertation aus politischem Interesse auf ihren Gegenstand einlässt. Allein schon ihre theoretischen Bezüge verweigern sich der akademischen Konjunktur. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Rostock geht von den Dechiffrierungen des Antisemitismus in der Kritischen Theorie aus. Sie betont, mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, gleich einleitend, dass der Antisemitismus nicht aus dem realen Agieren von Juden erklärt werden kann, sondern ausgehend von den psychischen Bedürfnissen und wahnhaften Projektionen der Antisemiten kritisiert werden muss – ganz gleich, ob beim Antisemitismus in Europa oder in anderen Teilen der Welt. Durchgängig bezieht sie sich in ihrer Analyse auf aktuelle ideologiekritische Überlegungen in der Tradition der Kritischen Theorie und diskutiert die Gegebenheiten im Iran in Auseinandersetzung mit den Thesen zum globalen kapitalistischen Modernisierungsprozess, wie sie in der »fundamentalen Wertkritik« im Stil der Zeitschrift Krisis formuliert wurden. Ohne sich Illusionen über die gesellschaftlichen Zustände im Westen zu machen, wendet sie sich explizit gegen kulturrelativis­tische Ansätze in den Postcolonial Studies, die in den vergangenen Jahren einen regelrechten Siegeszug in den Sozialwissenschaften angetreten haben: »Die Emanzipation von Menschen aus realen Unterdrückungsverhältnissen, die Befreiung von Verblendung und die Aufhebung von Ungleichbehandlung sind nicht zu negieren, weil sie die schützenswerten oder zu respektierenden Eigenarten einer als abgeschlossenes Biotop betrachteten Gesellschaft gefährdeten, sondern sie sind universelle Forderungen einer Kritischen Theorie.«
Marz beschreibt die Situation von Juden im Iran vor der Islamischen Revolution von 1979 und zeichnet nach, wie der Antisemitismus mit dem Aufstieg der iranischen Islamisten unter Khomeinis Führung von einer oppositionellen Bewegung gegen die prowestliche Modernisierungsdiktatur des Schahs zur Regierungsmacht zu »einer zentralen ideologischen Legitimationsfigur des islamistischen Regimes wurde«. Ulrike Marz stellt den Status der heute im Iran lebenden Juden als systematisch diskriminierte Minderheit dar, die zudem permanent dem Verdacht der Kollaboration mit Israel, des Verrats oder der Korruption ausgesetzt ist. Die Studie beschreibt die Holocaust-Leugnung und -Relativierung durch zentrale Vertreter des iranischen Regimes sowie in zahlreichen regime­treuen Publikationen, in denen die Karikaturen »denen der antisemitischen Wochenzeitung Der Stürmer im Nationalsozialismus« gleichen. Dabei bleibt sie sich der Schwierigkeiten bewusst, aufgrund fehlender Studien zu gesellschaftlichen Einstellungen im Iran etwas über den Grad der Zustimmung der iranischen Bevölkerung zu dem »sehr offensiv vertretenen An­tisemitismus von Klerikalen und Politikern« zu sagen.
Marz arbeitet die zentrale Bedeutung des Märtyrerkultes in der Ideologie der Khomeinisten heraus und betont, dass die antisemitische Propaganda in der Islamischen Republik Iran nicht von irgendwelchen isolierten Spinnern verbreitet wird, sondern »staatlich konzessioniert« ist: »Ohne Ausnahme haben alle iranischen Führer an der Verbreitung des Antisemitismus mitgewirkt.« Das gilt auch für die wiederholten Vernichtungsdrohungen gegen Israel, die Marz in Anlehnung an die Arbeiten von Wahied Wahdat-Hagh als »eliminatorischen Antizionismus« fasst: Seit dem Amtsantritt Präsident Hassan Rohanis »lassen die Vernichtungsvorstellungen gegen Israel keineswegs nach.«
Marz zitiert die zahlreichen explizit judenfeindlichen Äußerungen von Revolutionsführer Ayatollah Khomeini, der den Islam seit seiner Gründung in einer Konfrontation mit den Juden sah, die »die ersten« gewesen seien, die mit »antiislamischer Propaganda und mit geistigen Verschwörungen« begonnen hätten. Khomeini war in einer klassischen Projektion seiner eigenen globalen Herrschaftsgelüste felsenfest davon überzeugt, er müsse gegen die Errichtung eines »jüdischen Weltstaats« kämpfen, von dem er bereits in seiner zentralen Schrift »Der islamische Staat« phantasierte.
Die Studie liefert ausführliches Material, um den Erfindungsreichtum und die Verrücktheiten des schiitischen Antisemitismus zu illustrieren, beispielsweise Khomeinis Glauben, zionistische Israelis hätten gleich nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 Koran-Ausgaben in der Westbank verbreitet, aus denen alle judenfeindlichen Passagen – Khomeini spricht von »verses critical of the Jews« – getilgt worden seien. Marz verweist auf die Bedeutung der 1978 ins Persische übersetzten antisemitischen Hetzschrift »Die Protokolle der Weisen von Zion«, die in den folgenden Jahrzehnten von staatlichen Stellen im Iran in großen Auflagen immer wieder neu herausgegeben wurde – mitunter mit geänderten Titeln wie »Protokolle der jüdischen Führer zur Eroberung der Welt«. Hier wird bereits deutlich, dass die vorübergehenden Bemühungen seitens der iranischen Führung, mitunter zwischen Juden und Zionisten deutlicher zu unterscheiden, stets wieder konterkariert werden. Zudem kann Marz zeigen, dass in der iranischen Propaganda über »die Zionisten« stets in eben jenem verschwörungstheoretischen Geraune geredet wird, das aus dem klassischen Antisemitismus gegenüber Juden bekannt ist.
In der Studie werden nahezu alle Topoi des klassischen Antisemitismus in der Ideologie der iranischen Islamisten nachgewiesen, insbesondere die Verherrlichung einer konkretistisch verklärten, organischen, authentischen, schicksalhaften und harmonischen Gemeinschaft, die gegen eine chaotisch-abstrakte, entfremdete, zersetzende, künstliche, unmoralische, materialistische, widersprüchliche und letztlich mit den Juden assoziierte Gesellschaftlichkeit in Anschlag gebracht wird. Marz erläutert, wie sich der iranische Islamismus als »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus begreift – und auch in diesem Punkt Parallelen zum europäischen Faschismus aufweist. Sie stellt dabei immer wieder Verbindungen zur Gedankenwelt arabischer und türkischer Islamisten her, die sich gerade im Antisemitismus mit den schiitisch-iranischen Ausprägungen der jihadistischen Ideologie treffen.
Besonderes Augenmerk legt die Studie auf den ressentimentgeladenen Antikapitalismus der islamistischen Ideologie: »Die Überzeugung, die Ausbeutung aus dem kapitalistischen Wirtschaften exkludieren und an einen Feind des Islam delegieren zu können, führt die religiösen Führer im Iran nicht nur zu einer religi­ösen, sondern zu einer antisemitischen Kapitalismuskritik.« Während der Nationalsozialismus eine Trennung in »raffendes« und »schaffendes« Kapital vornimmt, proklamieren die Ayatollahs eine »islamische Wirtschaft« als Gegenentwurf zum »parasitären Kapitalismus«, die letztlich, wie Marz zeigt, nur »eine ethisch und moralisch überformte Variante des Kapitalismus ist, die genauso wenig mit Lohnarbeit, Ausbeutung und Mehrwert bricht wie andere Ideologien, die eine Bändigung des Kapitalismus anstreben.«
Die Autorin verdeutlicht, inwiefern der Antisemitismus den »ideologischen Kitt« der im Iran miteinander konkurrierenden »racketorganisierten Strukturen« liefert, die Marz im Rückgriff auf die Überlegungen von Horkheimer zur Diffusion staatlicher Herrschaft in Bandenkonkurrenz, von Franz Neumann zum »Unstaat« und von Ernst Fraenkel zum »Doppelstaat« analysiert. Marz weist sowohl religionsexegetische Erklärungen des islamischen Antisemitismus zurück, welche die Judenfeindschaft im 20. und 21. Jahrhundert aus Koransuren glauben erklären zu können, als auch jene »Importthese«, nach welcher der Antisemitismus am Beginn des 20. Jahrhunderts einfach aus Europa in die islamische Welt eingeführt wurde. Dagegen setzt sie eine Analyse der modern-regressiven Tendenzen in den islamischen Gesellschaften selbst: Der iranische Antisemitismus rekurriert demnach erstens auf »explizit islamische Motive und Beschuldigungen gegen Juden«, zweitens auf »spezifisch iranische soziale Kontexte« und drittens auf »Bezüge, die der islamische Antisemitismus dem westlichen modernen Antisemitismus entlehnt und islamisch überschreibt«. Marz verdeutlicht, inwiefern Islamisten sowohl sunnitischer als auch schiitischer Prägung »versuchen, die Krisen in der Moderne mit einer religionistischen Konstruktion von kollektiver Identität abzuwehren«. Sie zeigt überzeugend, inwiefern der iranische Islamismus eine »regressiv-moderne Erscheinung« und der islamische Antisemitismus im Iran eine moderne Ideologie ist, »die mit antimodernen Inhalten und modernen Mitteln an ihrer Durchsetzung arbeitet«.
Der Sprache ist anzumerken, dass es sich um eine Doktorarbeit handelt und gewisse universitäre Vorschriften und akademische Gepflogenheiten auch bei der Veröffentlichung eingehalten werden mussten. Das ändert am ideologiekritischen Gehalt der Ausführungen jedoch nichts: Ulrike Marz hat eine hervorragende Studie vorgelegt, der man eine größtmögliche Verbreitung auch weit über den Kreis eines akademisch interessierten Fachpublikums hinaus nur wünschen kann.

Ulrike Marz: Kritik des islamischen Antisemitismus. Zur gesellschaftlichen Genese und Semantik des Antisemitismus in der Islamischen Republik Iran. LIT, Berlin 2014, 440 Seiten, 29,90 Euro