Wie gefährlich leben Juden in Deutschland?

»Ich nehme das so nicht wahr«

Wie sicher leben Juden in Deutschland? In der Diskussion um die Gefahren des Antisemitismus gehen die Meinungen weit auseinander.

Die Reaktion in rechtsextremen Kreisen war einhellig, nachdem Angela Merkel anlässlich des islamistischen Anschlags auf eine Synagoge in Kopenhagen Sicherheit für »jüdische Einrichtungen und Bürger jüdischer Herkunft in Deutschland« versprochen hatte. »Welch ein Wunder in der BRD-Judenrepublik!« echauffierte sich ein Leser mit dem wenig subtilen Pseudonym »Nationalsozialist« im rechtsextremen Internetportal Altermedia. Ein anderer User empfahl Merkel, »ihre Juden« einzupacken »und mit denen nach IsraHell« zu verschwinden.
Der sächsische Landesverband der Partei »Die Rechte« verschickte kurz darauf One-Way-Tickets nach Israel an den Zentralrat der Juden sowie an die Jüdische Allgemeine. In dem dazugehörigen Anschreiben forderte er die deutschen Juden auf, nicht auf die Worte der Kanzlerin zu hören, sondern nach Israel auszuwandern. »Da wir als eine Partei der Tat bekannt sind, werden wir Sie bei der Ausreise tatkräftig unterstützen«, kraftmeiert die Kleinstpartei in dem Hetzbrief. Die Juden sollten zudem gleich noch die »Marionetten aus den Bereichen Politik und Wirtschaft« mitnehmen.

Adressat solcher antisemitischer Tiraden ist neben den offiziellen jüdischen Organisationen und bekannten Einzelpersonen auch die israelische Botschaft in Berlin. »Kindermörder, ich hoffe, in deinen Arsch fliegt eine Rakete. #AngelaMerkel«, zitiert der israelische Botschafter Yakov Hadas-Handelsman in einem Youtube-Video der Berliner Morgenpost eine der unzähligen an die Botschaft gerichteten Beleidigungen. In diesen Zuschriften wird die gesamte Palette des antisemitischen Ressentiments ausführlich ausgebreitet. »Die Wahrheit ist, dass ihr Juden euch auf dem Holocaust ausruht und nix arbeiten wollt«, schreibt eine Person. Nicht selten äußert sich in den Briefen auch der unverhohlene Vernichtungswunsch: »Die Menschheit wird wohl ganz offensichtlich erst dann wieder in Frieden leben können, wenn auch die letzte Judenratte über den großen Jordan gekickt wurde.«
Als sich im Februar die Berliner Jüdische Gemeinde dafür entschied, ihre monatlich erscheinende Mitgliederzeitschrift Jüdisches Berlin aus Sicherheitsgründen nur noch in einem Couvert ohne Aufdruck zu verschicken, war die Diskussion über die Sicherheit der Juden in Deutschland um ein weiteres Detail reicher. Entbrannt war sie, wie in anderen europäischen Ländern, nach den antisemitischen Anschlägen von Islamisten in Paris und Kopenhagen. Beinahe erstaunt über die wachsenden Ängste innerhalb der jüdischen Gemeinde vor antisemitischen Anfeindungen und Angriffen reagierte die Bundesregierung. So sicherte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) sofort zu, dass sich »Juden niemals wieder in Deutschland verstecken« müssten. Der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Volker Kauder (CDU), kam ihm mit der Aussage zu Hilfe, dass Deutschland eine »einzigartige Verantwortung« gegenüber seinen jüdischen Mitbürgern habe.

Doch was bedeuten solche Zusicherungen? »Die symbolische Sondersteuer, die den Juden heute abverlangt wird, sind die meist ungustiös vorgetragenen Kundgebungen ihres Vertrauens zur Bundesrepublik Deutschland als ihrer Heimat und zu den für die öffentliche Sicherheit zuständigen Institutionen«, schrieb Henryk M. Broder in der Welt über die derzeitige Lage. Wenn man diese unkritische Affirmation weiterhin betreibe, dann lasse man es »auf eine Trauerfeier im Bundestag ankommen«. Broder ist der Ansicht, dass es keine »Renaissance des jüdischen Lebens in Deutschland und in Europa« gebe, wie derzeit häufig in der deutschen Presse zu vernehmen ist, sondern dass »das Ende eines Experiments« zu beobachten sei. Beweis dafür sei, dass »mittlerweile in jeder Kleinstadt« ein Festival der jüdischen Kultur abgehalten werde, was darauf zurückzuführen sei, dass »die jüdische Kultur dort am beliebtesten ist, wo es keine Juden gibt«.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deu-tschland, Josef Schuster, konstatierte nach dem Anschlag in Kopenhagen, dass der Terror gegen jüdische Einrichtungen »endgültig mitten in Europa angekommen« sei. Als Schuster dieser banalen Erkenntnis die Warnung folgen ließ, in überwiegend von Muslimen bewohnten Stadtvierteln – besonders in Berlin – die Kippa nicht zu tragen, erntete er entschiedenen Widerspruch vom neuen Regierenden Bürgermeister Berlins, Michael Müller (SPD). »Ich nehme das so nicht wahr«, sagte dieser der Berliner Morgenpost. Es gebe in Berlin keine No-Go-Areas, in denen als solche erkennbare Juden sich nicht frei bewegen könnten. Außerdem versicherte Müller, dass die Stadt eine derartige Entwicklung auch nicht zulassen werde.
Dilek Kolat (SPD), Berlins Integrationssenatorin, stimmte dem Regierenden Bürgermeister zu: »Im Jahr 2013 kamen von acht antisemitischen Übergriffen sieben von rechts und nur einer von einem Ausländer. Das Problem lässt sich nicht auf Muslime fokussieren.« Dass Juden in »muslimischen Problemvierteln« besonders gefährdet seien, sei statistisch gesehen nicht zu belegen, sagte Kolat dem RBB. Die Zahl antisemitischer Vorfälle in Berlin sei zwar in den vergangenen Jahren gestiegen, aber die Täter stammten zu 90 Prozent aus der rechtsextremen Szene. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlins, Gideon Joffe, bekräftigte dagegen Schusters Aussagen. So könne er das Tragen der Kippa in manchen Gegenden Berlins »nicht reinen Herzens« empfehlen. Dies gelte aber nicht nur für Viertel mit einem hohen Anteil muslimischer Einwohner, sondern auch für Stadtteile, in denen rechtsextremes Gedankengut größere Zustimmung findet. Ebenso zu Wachsamkeit riet der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, da es Personen gebe, die sich von Kippa-Trägern oder Davidsternen »provoziert« fühlten. Sein Tipp: In Gegenden, wo dies der Fall sei, sollten Juden sich »entsprechend verhalten«.
Das Problem des Antisemitismus in deutschen Großstädten zu »islamisieren«, führt nach Ansicht von Aiman Mazyek, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, in die Irre. Die Verknüpfung der Begriffe »Problemviertel« und »muslimisch« könne schnell missverstanden werden. Die Ängste der deutschen Juden hält Mazyek jedoch für berechtigt. »Der Antisemitismus in diesem Land ist nicht bekämpft worden, er ist noch da und hat in den vergangenen Jahren sogar noch zugenommen. Wir nehmen diese Sorgen sehr ernst«, sagte er in einer Diskussionsrunde des Senders Phoenix. Der Antisemitismus sei aber »ein Problem der gesamten deutschen Gesellschaft«.

Die »Reaktion der Mehrheitsgesellschaft« sei wichtig, sagte auch der Publizist Michel Friedman in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau. Es sei ausschlaggebend, »ob die Sonntagsreden der Politiker auch von Montag bis Samstag gelebt werden«, kritisierte er die derzeitige Geschäftigkeit im politischen Betrieb. Es würden »immer noch Judenwitze gemacht«, die Menschen setzten Israel und die Juden gleich und die gegnerische Mannschaft auf dem Fußballplatz werde »Judenmannschaft genannt«, ohne dass »die Menschen reagieren«. Die Ausgrenzung der jüdischen Minderheit zeige sich auch deutlich in der Sprache: »Wenn ich höre, dass nach den jüngsten Anschlägen führende Politiker sagen, ›wir‹ stehen auf ›eurer‹ Seite, dann frage ich mich: Wer ist dieses ›wir‹?« Bereits hier manifestiere sich die Ausgrenzung: im »Wir und Ihr«.