Die Kurden und den Völkermord

100 Jahre Panturkismus

Im Osmanischen Reich existierte vor 100 Jahren eine multikulturelle Gesellschaft unterschiedlicher Glaubensrichtungen. In den sechs östlichen Provinzen betrug der Bevölkerungsanteil der Christen zwischen 35 und 60 Prozent, sie waren jedoch Bürger zweiter Klasse. Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden nationalen Befreiungskämpfe und die erkämpfte Unabhängigkeit Griechenlands und Bulgariens riefen bei der Reichsregierung Entsetzen hervor. Das damals regierende Komitee »Einheit und Fortschritt«, das mit dem Versprechen, ein freiheitliches Grundgesetz zu schaffen, die Unterstützung abhängiger Nationen im Reich gewonnen hatte, richtete sich fortan nach einer Politik des türkisch-islamischen Turanismus im Sinne eines Panturkismus. Ziel war die Eroberung aller Gebiete, in denen Türken lebten.
Hinsichtlich der Befreiungskämpfe christlicher Völker war das Komitee daher in großer Sorge. In diesen Völkern sah man in kultureller, intellektueller sowie ökonomischer Hinsicht eine Konkurrenz, die durch Pogrome und Deportationen ­beseitigt werden sollte. Einer der Gründe hierfür war, dass das Sultanat 1914 auf Druck europäischer Länder einschließlich Russlands eine Verwaltungsreform und ein Abkommen über die Eigenständigkeit armenisch und kurdisch besiedelter östlicher Provinzen unterschreiben musste.
Der Erste Weltkrieg ermöglichte der Regierung unter der Führung von Talat, Enver und Cemal Pascha die Verwerfung dieser Verpflichtungen. Zugleich bot er optimale Bedingungen zur Vernichtung besagter Völker. Unter dem Vorwand, sie hätten die russische Armee unterstützt, wurden Millionen von Menschen auf Deportationsmarsch geschickt und unterwegs ermordet.
Die Politik des Genozids und der ethnischen Säuberung machte aus der einst multikulturellen osmanischen Gesellschaft einen auf die türkisch-muslimische Grundidee gestützten, homogenen türkischen Nationalstaat. Die Wurzeln der »modernen« türkischen Republik gehen auf diese Politik zurück, sie bildet damit die Quelle einer Vielzahl heutiger ethnisch-kultureller Probleme.
Der osmanische Staatsapparat schaffte es, im Namen der Glaubensbruderschaft neben der türkischen Gesellschaft auch andere muslimische Bevölkerungsgruppen – Kurden, Tscherkessen, Lazen – an der Politik der ethnischen Säuberung christlicher Völker teilhaben zu lassen. Insbesondere kollaborierende kurdische Feudalherren, die die regionale Autorität in Westarmenien, Kurdistan sowie im oberen Mesopotamien innehatten, spielten mit ihren Streitkräften, den sogenannten Hamidiye-Einheiten, eine verheerende Rolle im Genozid.
Der neu gegründete türkische Staat entsprach jedoch nicht den Erwartungen der kurdischen Feudalherren. Weder die lokale Autonomie noch die kurdische nationale Existenz wurden anerkannt. Wie auch bei anderen muslimischen Bevölkerungsgruppen wurde eine Zwangstürkisierung und Assimilation der Kurden angestrebt. Bei Widerstand scheute man sich nicht, zahlreiche Familien zu deportieren oder zu ermorden, wie man es zuvor bei den Armeniern getan hatte.
Das heutige nationale Problem der kurdischen Bevölkerung wurzelt in dieser ausbeuterischen Politik. Die Debatte um den Genozid von 1915 bildet den Nährboden aller ethnisch-gesellschaftlichen Probleme und Konfrontationen.

Recep Maraşli ist ein kurdisch-türkischer Autor.