Europa und die syrischen Flüchtlinge

Push-Faktor Assad

Viele syrische Flüchtlinge rechnen nicht mehr mit einer Rückkehr nach Syrien. Doch ein sicheres Leben in Europa scheitert am Geld sowie an der EU-Politik.

Boote voller Flüchtlinge fahren wieder übers Mittelmeer und kentern. Alleine dieses Jahr sollen schon weit über 1 000 Menschen zu Tode gekommen sein und fast täglich werden es mehr (siehe Seite 12). Zuletzt las man im Herbst 2014, also bevor der Winter solche Überfahrten weitgehend verunmöglichte, von Hunderten Ertrunkenen. Zwischenzeitlich wurde nichts unternommen, außer dass der Seenotrettungsdienst »Mare Nostrum« eingestellt wurde. Angeblich aus Geldmangel; in Wirklichkeit, weil er im Jargon europäischer Flüchtlingspolitiker als sogenannter Pull-Faktor galt, also einen Anreiz für Menschen geschaffen habe, den Weg nach Europa zu suchen.
Was ist mit den »Push-Faktoren«? Im Falle Syriens soll Angaben der UN zufolge inzwischen mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus Flüchtlingen und Binnenvertriebenen bestehen, 80 Prozent aller Syrerinnen und Syrer leben in Armut, ein Drittel ist mangel- beziehungsweise unterernährt. Jahrelang hat man in Europa mehr oder weniger tatenlos zugesehen, wie das Land systematisch zerstört wurde. Dass in der Folge Milli­onen Menschen fliehen würden, war zwar absehbar; doch erst seit vergangenes Jahr Syrerinnen und Syrer den weltweit größten Anteil an Flüchtlingen ausmachten, ist man alarmiert.
Im Irak führte der Sturz Saddam Husseins 2003 zu einem Exodus von Unterstützern des alten Regimes, aber auch der christlichen Minderheit, also von Angehörigen der wohlhabenden Schichten. Im Gegensatz dazu stammen die meisten syrischen Flüchtlinge aus der sunnitischen Mehrheit des Landes und »den ärmsten Teilen der Bevölkerung«, wie ein Sprecher des Norwegian Refugee Council kürzlich erklärte.
Man erwartete in Europa – zu Recht – nicht, dass sie sich die horrenden Preise leisten könnten, die Schleuser für eine einigermaßen sichere Überfahrt nach Europa verlangen. So besuchten Außenminister hin und wieder die Nachbarländer Syriens, forderten deren Regierungen auf, die Grenzen doch bitte offen zu lassen, überwiesen ein paar Euro an das UN-Flüchtlingshilfswerk und mahnten eine »diplomatische Lösung« des Konflikts an.
Es bestand die Annahme, die Syrer würden schon nicht in Massen kommen. Wer sich zudem bis vor einiger Zeit unter Flüchtlingen in der Region umhörte, stellte mit Erstaunen fest, dass viele so schnell wie möglich in ihr Herkunftsland zurückkehren wollten, sobald nur das Regime gestürzt sei. Erst als sie die Hoffnung verloren, weil ein Ende des Konflikts und der Zerstörungen nicht mehr absehbar war und es eben keine »rote Linie« gab, richtete sich der Blick vieler endgültig auf Europa.
Da die wenigsten über die finanziellen Mittel verfügen, die man für eine sichere Überfahrt in die Festung Europa inzwischen aufbringen muss, nämlich mehrere tausend Euro pro Person, haben sogenannte Seelenverkäufer Hochkonjunktur, die Überfahrten auf schrottreifen, überfüllten Kähnen anbieten. Legale Wege, als Flüchtling nach Europa zu kommen, gibt es längst nicht mehr. Inzwischen glaubt kaum noch ein Flüchtling an eine baldige Rückkehr. Wenigen nur gelingt es, sich ein neues Leben in der Türkei, im ­Libanon oder in Jordanien aufzubauen. Der Rest will so schnell es geht weg. Und ist bereit, dafür immer größere Risiken in Kauf zu nehmen.
So werden sich auch die Meldungen von havarierten Schiffen und Ertrunkenen in den kommenden Monaten mehren. Sowohl in Griechenland als auch in Italien rechnen die Regierungen mit Hunderttausenden neuen Flüchtlingen. Die irre Hoffnung, irgendwie werde sich der Syrien-Konflikt schon von selbst lösen, wenn man lange genug untätig bleibe, fordert weiter ihren Tribut. Wenn Außenminister Frank-Walter Steinmeier angesichts der jüngsten Tragödien im Mittelmeer erklärt, man müsse den Flüchtlingen vor allem Rückkehrperspektiven bieten, ist das nicht nur zynisch, sondern auch illusorisch. Denn für die Mehrheit der syrischen Flüchtlinge gibt es vor allem einen »Push-Faktor«: Bashar ­al-Assad. Gerade aber hat der deutsche Außenminister klar gemacht, dass der syrische Diktator für ihn nicht Teil des Problems, sondern der Lösung ist.