Berlin Beatet Bestes. Folge 289.

Nichts geht über das Original

Berlin Beatet Bestes. Folge 289. Tony und The Blue Beats: Ich such’ ein schickes Baby (1964).

Kaum hatte Antonio Stradivari sich Ende des 17. Jahrhunderts mit seiner Geigenmanufaktur etabliert, versuchten andere Geigenbauer, seine Werke zu kopieren. Seit es den Kapitalismus gibt, versuchen Raubkopierer den Preis der Originale zu unterbieten. Seit etwa 100 Jahren, also seit es Schallplatten gibt, gibt es auch Billig-Labels. Ein Billig- oder Budget-Label veröffentlichte in der Vergangenheit legal und unter Beachtung des Copyright Platten, auf denen unbekannte Gruppen oder Interpreten aktuelle Hits nachspielten. Auf dem Zenit der Billig-Labels Anfang der sechziger Jahre, als die Bundesbürger schließlich genug Geld zur Verfügung hatten, um sich einen modernen Schallplattenspieler zu leisten, stieg auch der Bedarf an geeigneten Tonträgern. Alle wollten jetzt zu Hause irgendwelche Musik abspielen, möglichst billig natürlich. Die Nachfrage war so groß, dass sogar die Major-Labels eigene Billigmarken gründeten. So nannte Polydor sein Unter-Label Tip, Ariola seins Baccarola.
Rock ’n’ Roll- und Beat-Coverversionen werden heute von einer Handvoll Sammlern wieder geschätzt. Dazu zählen vor allem die Veröffentlichungen von Tony Tornado und den Ravers, beziehungsweise Tonics, der bekanntesten und fleißigsten Billig-Label-Beatband. So wie heute manche DSDS-Kandidaten sang Tony radebrechend Hits nach, ohne eine Zeile des Textes gelesen, geschweige denn verstanden zu haben. Das renommierte Reissue-Label Bear Family Records, das sich besonders um die Wiederveröffentlichung des coolen Polydor-Katalogs der fünfziger Jahre verdient gemacht hat, veröffentlichte vor einiger Zeit erneut den Katalog der Billigmarke Tip, allerdings lediglich digital. So lustig Tonys Versionen sind, ich bezweifle, dass irgendwer heute noch diese Stücke für seinen iPod braucht, schon gar nicht für 1,29 Euro pro Song.
Tony, eigentlich Manfred Oberdörffer, durfte 1964 als Tony  und Die Blue Beats sogar zwei frühe deutsche Ska-Titel für das Mutter-Label Polydor aufnehmen. Über die Suche nach Ska oder Blue Beat, benannt nach dem gleichnamigen britischen Label, stieß ich unerwartet auf ein modernes Phänomen, das mit dem der Billig-Labels verwandt ist. Ebenfalls Bluebeat nennt sich ein kalifornisches Unternehmen sowie ein digitales Verfahren: Der Streaming-Dienst Bluebeat.com bietet Songs an, die genauso klingen wie gegenwärtige Chart-Hits. Tatsächlich handelt es sich um »psycho-akustische Simulationen«, die mit digitalen Verfahren hergestellt werden und für menschliche Ohren nicht von den Originalen zu unterscheiden sind. Die Firma behauptet sogar, ihre Kopien klängen besser.
Ich habe digitale Musik schon immer gehasst und finde mich in diesem herzlosen Phänomen endlich bestätigt. Tatsächlich ist jede digitale Aufnahme eine psycho-akkustische Simulation. Der Gen-Gau ist in der Musikindus­trie längst geschehen. MP3 sind einfach nicht bio. Nur auf meiner knisternden alten Platte singt mit Sicherheit Tony die Originalversion: »Ich such’ ein schickes Baby … «
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.