Der rassistische Mob und das Scheitern der Zivilgesellschaft

Sächsische Popanze

Wie sich die Bilder gleichen: 24 Jahre nach Hoyerswerda ist es abermals der sächsische Mob, der die rassistischen Ressentiments der Nation exekutiert, während sich die Brandstifter aus Politik und Medien schon wieder die Seife reichen.

Ich stelle mir die Szene so vor: Der berühmte Schauspieler und Regisseur liegt in seiner freistehenden Gussmarmor-Badewannne im umgebauten Fabriketagen-Souterrain mitten in Berlin. Die linke Hand hält die Schampuspulle, die rechte das iPhone, das soeben zu vibrieren beginnt. Dann macht es: »Bäm!!!«, denn: »Der Vizekanzler hat sich gemeldet! Und er hat sich eine halbe Stunde an seinem Feierabend meinen Frust angehört.« Den Frust wegen der blöden Nazis, die ihm seine Facebook-Seite zurotzen, nur weil er sich für Flüchtlinge einsetzt. Die beiden plaudern ein bisschen und sind sich »sofort einig: Dass die Mehrheit der Deutschen diesen Hass nicht teilt!!!!« Das ist beruhigend, insbesondere weil die beiden es schließlich wissen müssen. Mit Hass kennen sie sich aus. Der eine, Til Schweiger, dem bekanntlich gern mal die Hand ausrutscht, wenn er sich nicht ausreichend gewürdigt fühlt, hatte noch vor kurzem in einem Fernsehtalk gegen das »deutsche Gutmenschentum, das mich so ankotzt«, gewettert und die Ansicht vertreten, »dass jemand, der eine Sexualstraftat begeht, sein Recht in dieser Gesellschaft verwirkt hat«. Aber nicht, dass man ihn falsch verstünde, er sei »ein energischer Gegner der Todesstrafe«. Bäm!!! Der andere, Sigmar Gabriel (SPD), umschmeichelte noch im Februar die Pegida-Anhänger, indem er sich für ihr demokratisches Recht starkmachte, »rechts zu sein oder deutschnational«, und als im April mal wieder Hunderte von Flüchtlingen im Mittelmeer umkamen, war er unter den ersten, die Luftangriffe auf Schleuserboote forderten. Bäm!!! Bäm!!!

Die Mehrheit der Deutschen teilt den Hass also nicht? Dumm nur, dass sie davon augenscheinlich nichts weiß. Wie sonst wäre die erhebliche Zunahme von Angriffen auf Flüchtlinge, von Brandanschlägen und Demonstrationen gegen Asylunterkünfte, wie sonst wären Pegida und AfD zu ­erklären? Schon bezüglich der monatelang brodelnden Gewaltstimmung im sachsen-anhalti­nischen Tröglitz, die im Abbrennen der Flüchtlingsunterkunft ihren vorläufigen Höhepunkt fand, zogen viele Kommentatoren Vergleiche zu den Pogromen von Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992. Und auch für die aktuelle Lage im sächsischen Freital greift man gerne auf diese historische Bezugsgröße zurück. Das ist einerseits richtig, denn genau wie damals gibt es auch heute rund um die jeweiligen medialen Hotspots so viele andere Feuerherde, dass man getrost von einem rassistischen Flächenbrand sprechen kann, der weite Teile der Gesellschaft erfasst hat. Andererseits ist der Vergleich dann irreführend, wenn er benutzt wird, um das Problem zu regionalisieren.

Warum der rechte Terror in den neunziger Jahren im Osten weiter verbreitet war und offensiver vom sogenannten Bürgertum unterstützt wurde als im Westen, ist bekannt. Da gibt es die DDR-spezifischen Gründe, wie die ungebrochene Fortführung von nationaler und völkischer Rhetorik nach 1945, militarisierte Gesellschaftsstrukturen, die Kasernierung ausländischer Vertragsarbeiter oder den selbst herbeigemauerten Provinzialismus. Daneben stehen jene Erklärungen, die mit der konkreten Situation nach dem Mauerfall und dem Beitritt zur Bundesrepublik zu tun haben: Massenarbeitslosigkeit, Existenzangst, Demütigungen. Und schließlich ist da noch der Umstand, dass hier nicht einfach zwei Staaten beschlossen hatten, per Vertrag zu einem zu werden, sondern dass diese Vereinigung vom ersten »Wir sind ein Volk!«-Ruf an völkisch legitimiert wurde. All das hatte Anteil daran, dass Ostdeutschland in den frühen neunziger Jahren zur No-Go-Area für Menschen anderer Hautfarbe wurde und in großen Teilen bis heute ist. Aber, könnte man nun fragen, haben all die zivilgesellschaftlichen Förderprogramme, haben all die antirassistischen Bürgerinitiativen der letzten 25 Jahre denn gar nichts daran ändern können? Die traurige Antwort: Doch aber nur partiell. Denn zum einen war dieses Reeducation-Engagement zu keinem Zeitpunkt flächendeckend, werden gerade dünn besiedelte Landstriche bis heute kampflos der Kümmerkompetenz der NPD überlassen. Zum anderen kann man rassistische Ängste nur mittels Konfrontation bekämpfen. In den östlichen Bundesländern sind aber – weil sowas von sowas kommt – durchschnittlich eben nur zwei Prozent der Bevölkerung Migranten.
Es ist also kaum rätselhaft, weshalb es auch heute wieder vorrangig der ostdeutsche Mob ist, der die mediale »Flüchtlingsdebatte« martialisch bebildert. Dennoch ist das Problem kein regionales, sondern ein nationales. Rechten Terror gegen Asylsuchende gibt es im ganzen Land und brave Bürger, die dafür »Verständnis haben«, auch. Bereits drei Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte wurden in diesem Jahr allein in Bayern gezählt. Was den Unterschied zwischen westdeutscher und ostdeutscher Zivilgesellschaft ausmacht, ist nur die Tatsache, dass hessische oder pfälzische Reihenhausbewohner ihre Ressentiments meist nicht so dumpf herausgrölen wie Sachsen oder Mecklenburger, sondern sie mit wirtschaftlichen Erwägungen scheinbar rational ummänteln. Da sie sich jedoch in den Kommentarspalten im Internet weniger bedeckt geben, wissen wir, dass es wohl nationaler Konsens ist, vor dem syrischen Bürgerkrieg flüchtende Fa­milien eher aufzunehmen als junge schwarze Männer. Die gelten dem Deutschen in Ost und West per se als Wirtschaftsflüchtlinge. Zwar mag er mal davon gehört oder gelesen haben, dass es auch südlich der Sahara Bürgerkriege und islamistische Killermilizen gibt, auch kann man ­davon ausgehen, dass die lebensgefährlichen Umstände einer Flucht durch die Wüste und über das Mittelmeer hinlänglich bekannt sind, aber … Hier braucht es den Sachsen, um auszusprechen, was alle denken: »Die wollen doch an unsere Mädchen!« (O-Ton aus Freital)
Wer sich gern halbwegs zivilisiert gibt, der beruft sich heute nicht auf Gene, sondern auf eine deutsche oder abendländische Kultur, die es zu erhalten gelte. Aber die Grundangst dahinter ist dieselbe, nämlich die, die auch den norwegischen Massenmörder Anders Breivik umtrieb: ethnisch »im eigenen Land« zur Minderheit zu werden, entweder durch eine vermehrungsfreudigere muslimische Parallelgesellschaft oder durch schwarze Männer, die »sich doch nur vermischen« (O-Ton aus Freital) wollen. Daher auch die Vielzahl von Vergewaltigungslegenden rund um Flüchtlingsheime. Anders als einen Gewaltakt kann man sich sexuelle Begegnungen zwischen weißen Frauen und schwarzen Männern einfach nicht vorstellen, denn unterm Strich ist es – Einvernehmlichkeit hin oder her – zumindest der deutsche Volkskörper, dessen Reinheit hier geschändet wird. So ist es auch zu verstehen, wenn ein Schuldirektor aus dem brandenburgischen Michendorf seine Schülerinnen auffordert, auf kurze Hosen und Miniröcke zu verzichten, weil »Mimik und Gestik sowie Kleiderordnung von Menschen aus anderen Kulturkreisen falsch verstanden werden könnten«.
Zugegeben, das war wieder ein Beispiel aus Ostdeutschland. Aber es braucht schon die konservative Westpresse, um die Freitaler Rassisten zu »Asylkritikern« (Die Welt, Berliner Morgenpost, Focus etc.) zu verklären. Und es brauchte die baden-württembergischen Grünen, um die erneute Beschneidung des Asylrechts durch den Bundesrat zu kriegen. Die erste »Änderung« 1993, die einer Abschaffung bereits recht nahe kam, hatte Helmut Kohl noch als Reaktion auf Rostock-Lichtenhagen verkaufen müssen, um im Bundestag die Zweidrittelmehrheit für eine Gesetzesänderung zu bekommen. Dabei war diese schon in den achtziger Jahren erklärter Wille der CDU gewesen, ein Thema also, für das man sich seit Jahren mit Hetzreden und Kampagnen (»Das Boot ist voll!«) eingesetzt hatte und das von der Presse in hohem Maß mitbefördert wurde. Im Westen hatte diese Welle noch vor 1989 rechtsextreme Parteien wie die DVU oder die »Republikaner« in die Parlamente gespült, bevor sie ab Frühjahr 1990 mit Menschenjagden und rassistischen Morden im Beitrittsgebiet zu einem völkischen Tsunami wurde.

Ganz ähnlich heute: Politik und Medien trompeten täglich Warnsignale gegen den »Ansturm« der Flüchtlinge, als stünde da ein feindliches Heer an der Grenze, und zeigen damit dem sächsischen Mob, dass er mit seinem Aufstand letztlich gesamtgesellschaftlichen Willen exekutiert. Mag der hessische oder pfälzische Reihenhäusler sich auch über die hässlichen Fratzen mokieren, im Stillen ist er ihnen dankbar. Auch weil das nationale Selbstwertgefühl durch die Abwertung der EU-Nachbarn im Zuge der Griechenland-Krise zuletzt abermals eine höchst ungesunde Steigerung erfahren hat. Mit ihrer Hegemonialpolitik haben Angela Merkel und Wolfgang Schäuble ­erreicht, dass selbst europäische Südländer an deutschen Stammtischen als schwer zu domes­tizierende Halbwilde wahrgenommen werden. Welche Rollenzuschreibung bleibt da noch für die Elenden aus Afrika, außer der parasitärer Existenzen?
Offener Rassismus wird in Ostdeutschland zweifellos häufiger artikuliert. Das »Ich bin ja kein Rassist, aber …« dagegen ist längst gesamtdeutscher Konsens, und zu den explizit westdeutschen Marotten gehört es, sich dabei noch humanistisch fühlen zu wollen, also am Ende »anständig geblieben zu sein« (Heinrich Himmler). Deswegen hat Sigmar Gabriel lieber den Schweiger Til angerufen als den Flüchtlingsrat. Und deswegen fabuliert Kanzleramtsminister ­Peter Altmaier (CDU) nun, da endlich jeder verstanden hat, dass die Fluchthelfer auf dem Mit­telmeer böse sind, auch noch von »Leuten, die Menschen quer durch Afrika treiben«. Damit ist endgültig klar: Flüchtlinge sind eigentlich Verschleppte, wer ihnen wirklich helfen will, muss sie ab- beziehungsweise ausweisen. Bäm!!!