Bundesweite Redeminute

»Bitte beachten Sie die bundesweite fünfminütige Schweigeminute um zwölf Uhr«, steht am Montag nach dem 13. November auf einem Aushang im Lehrerzimmer, gezeichnet: die Schulleitung. Ich habe montags um zwölf Uhr keinen Unterricht, will aber wissen, wie das in den einzelnen Klassen abgelaufen ist, und frage interessiert im Kollegium herum. Nun ist das Kollegium ein Feld so weit, dass man alle Geflüchteten und ihre Hunde, Katzen und Goldfische problemlos darauf unterbringen könnte, und seine Antworten fallen dementsprechend mannigfaltig aus: Von »Schrecklich, die waren wieder kein bisschen still« über »Wir machen doch sonst auch keine Schweigeminute, wenn irgendwo wer stirbt« bis hin zu ernsthaften Erwägungen zu einem vernünftigen Umgang mit einer unvernünftigen Situation ist alles dabei. Aus den siebten Klassen, unseren Kleinen, wird überwiegend von widerstandslosem Schweigen berichtet, in den höheren Klassenstufen scheint sich die Sache schwieriger gestaltet zu haben.
Zwei meiner Achtklässlerinnen sprechen mich in der Hofpause an und wollen wissen, ob ich jetzt Angst vor Anschlägen in Berlin habe, sie jedenfalls schon. In der folgenden Stunde stellt sich bei einer Diskussion zum Thema allerdings heraus, dass sie damit innerhalb der Klasse eine Minderheit bilden, insgesamt herrscht ein gewisser Unwille vor, überhaupt über die Anschläge von Paris zu reden oder auch nur darüber, warum nicht darüber geredet werden soll. Nour teilt schließlich mit, dass sie zwar schlimm finde, was in Paris passiert ist, aber ungerecht, dass die Medien nicht von den ganzen anderen Toten sprechen, und erntet zustimmendes Gemurmel. »So wie bei dem Anschlag in Beirut?« frage ich nach und Nour ist genervt, »Nein, ach, Beirut – über Palästina und Israel redet wieder keiner.« »Die Toten bei den Messerattacken?« Nour, langsam ungehalten: »Nicht die Israelis, über die toten Palästinenser redet keiner!« Irgendwer aus der Klasse ruft tatsächlich dazwischen: »Wie, ich dachte, du willst über alle Toten sprechen?« Dann ist Nour beleidigt und alle anderen reden durcheinander.
Nachher denke ich, dass ich, wenn ich tief hineinschaue in den hässlichen, feigen und faulen Teil meiner kleinen Lehrerinnenseele, nicht besonders traurig war über das plötzliche Ende dieser Debatte. Ich finde es oft schwierig, mit Achtklässlern zu diskutieren: Einerseits will ich sie wirklich nicht überfahren, andererseits habe ich gelegentlich den Impuls, mein Gegenüber zu schütteln und 500mal an die Tafel schreiben zu lassen: »Ich soll keinen antisemitischen Scheißdreck nachplappern«, in Schönschrift, mit einem sehr kurzen Kreidestummel. Einen Haufen Jugendlicher dazu zu bringen, für fünf Minuten nicht zu sprechen, auch wenn sie den Anlass nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, ist offensichtlich auch keine Lösung. Wir werden reden müssen.