Die Reaktionen der türkischen Regierung nach dem Selbstmordanschlag in Istanbul

Artillerie statt Aufklärung

Sehr schnell wurde nach dem Sebstmordattentat in Istanbul der mutmaßliche Täter identifiziert. Doch die Hintergründe bleiben unklar, und einmal mehr nutzte die türkische Regierung den Anschlag für ihre Zwecke.

Die Explosion am Morgen des 12. Januar war noch weit entfernt vom Istanbuler Altstadtviertel Sultanahmet zu hören. Ein dumpfer Knall, gefolgt von einer nachhallenden Druckwelle. Zuletzt erschütterte 2003 eine solche Explosion die Metropole am Bosporus, als ein türkischer Ableger von al-Qaida einen Autobombenanschlag auf das britische Generalkonsulat und eine internationale Bank verübte. Damals brauchte es eine ganze Weile, bis Sicherheitskräfte und medizinische Helfer an Ort und Stelle Tote und Verletzte bargen. Es dauerte eine Woche, bis erste Ermittlungsergebnisse vorlagen.
Diesmal verlief alles anders. Kurz nach der Explosion eilten die ersten Ambulanzen an den Tatort, um zehn tote deutsche Touristen und 15 Verletzte zu bergen. Der Anschlag ereignete sich um 10.21 Uhr. Bereits am Nachmittag verkündete Präsident Recep Tayyip Erdoğan, ein Syrer habe den Anschlag verübt. Pünktlich zum Besuch des deutschen Innenministers Thomas de Maizière (CDU) in Istanbul einen Tag später lagen die Ermittlungsergebnisse vor. Der Attentäter wurde nach Angaben der türkischen Ermittlungsbehörden anhand einer Fingerkuppe identifiziert, da er kurz zuvor als Flüchtling mit Fingerabdrücken in der Türkei aktenkundig geworden sei.

Die Forensik in der Türkei, gemeinhin weder für ihre Effizienz noch für ihre Schnelligkeit bekannt, hat hier angeblich wahre Meisterleistungen vollbracht. Aus einer Vielzahl von Leichenteilen wurden die des Täters und so dessen Identität ermittelt. Seltsam, dass die Forensiker länger brauchten, um auch nur die genaue Anzahl der Opfer bestimmen zu können. Der Attentäter von Istanbul ist de Maizière zufolge durch Personaldokumente von den türkischen Sicherheitsbehörden identifiziert worden, hieß es am gleichen Tag in den deutschen Medien. Im Interview der ARD-Tagesthemen sagte de Maizière: »Man hat diesen Mann insoweit identifiziert, dass es ein Personaldokument gibt, aber ob dieses Personaldokument zu diesem Mann gehört, ist alles noch Gegenstand der Aufklärung.« Eine Aussage, die nichts aussagt; dementsprechend verliefen auch die weiteren Ermittlungen hinsichtlich des Terroranschlags.
Sofort bekannt war den türkischen Behörden etwa, dass es sich bei dem Täter um ein Mitglied des »Islamischen Staats« (IS) handle. Der Selbstmordattentäter tarnte sich nach Angaben der Behörden als Flüchtling und reiste aus Syrien ein. Er ließ sich nach Angaben von Innenminister Efkan Ala eine Woche vor der Tat in einem Flüchtlingsbüro in Istanbul registrieren. Da fragt man sich, ob er als Berufsbezeichnung tatsächlich IS-Mitglied angegeben hat. Aber auch, woher die türkischen Behörden sofort nach dem Anschlag von der konspirativen Identität wissen konnten, wenn der Mann sich noch vor einer Woche als Flüchtling hatte registrieren lassen können.
An der Haltung der türkischen Regierung zum IS hat de Maizière nach eigener Aussage keine Zweifel. Der Türkei wurde und wird vorgeworfen, IS-Kämpfern relativ ungehinderte Bewegung über die türkisch-syrische Grenze zu ermöglichen. Spätestens nach dem verheerenden Anschlag im Herbst vorigen Jahres, so de Maizière, »ist die Haltung gegen diesen ›Islamischen Staat‹ und die Terroristen eindeutig«. Diese Aussage verblüfft, denn nach dem Anschlag kamen in der Türkei viele Fragen hinsichtlich der doppelzüngigen Politik der Regierung auf.
Im Oktober sprengten sich kurz vor den Parlamentswahlen in der Türkei Attentäter des IS in Ankara in die Luft und töteten 102 Menschen, vor allem prokurdische Oppositionelle. Selbst einige der mit Nachrichtensperren und drakonischen Strafen drangsalierten türkischen Medien trauten sich angesichts des Vorfalls zu fragen, wie es möglich sei, dass den Behörden bekannte IS-Terroristen ungehindert von Syrien bis in die Hauptstadt reisen können, um einen Anschlag zu verüben. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu sagte daraufhin, man könne doch nicht präventiv potentielle Täter verhaften – angesichts der häufigen Verhaftungen friedlicher Oppositioneller in der Türkei eine wenig glaubhafte Aussage.
Weiß der deutsche Innenminister nichts davon? Zu welchen Ermittlungsergebnissen kamen die vier BKA-Beamten, die nach dem Anschlag in Istanbul mit an den Bosporus gereist waren? Nach offiziellen Angaben wurden ihnen Einblicke in die Ermittlungsakten gewährt. Haben sie diese geprüft? Handelt es sich um Türkisch sprechende Experten des BKA? Ermittlungsakten werden in der Türkei in einer Fachsprache verfasst, die selbst Muttersprachler an ihre Grenzen kommen lässt. Wie schnell kamen sie zu einem Ergebnis? Wie kann der Minister sich nach nicht einmal einem Tag zu solchen jeglichen eigenen Handlungsbedarf ausschließenden Stellungnahmen hinreißen lassen?

Statt die Hintergründe zu prüfen, beeilten sich die türkische und die deutsche Seite, flankiert von den meisten Medien, Lippenbekenntnisse abzugeben. »Deutschland und die Türkei wollen künftig in der Terrorbekämpfung noch enger zusammenarbeiten. Dies kündigte der deutsche Innenminister Thomas de Maizière nach einem Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen Efkan Ala am Mittwoch in Istanbul an«, so die Agenturmeldung. Der Vorfall und seine klägliche diplomatische Folgenlosigkeit sind skandalös. Auch wenn es wahrscheinlich ist, dass es sich bei dem im Istanbuler historischen Viertel Sultanahmet ums Leben gekommenen Nabil Fadli um ein IS-Mitglied handelt, so ist dennoch nicht verifizierbar, in welcher Rolle er sich zur Tatzeit dort aufhielt.
Nachdenklich stimmen vor allem die sofortigen türkischen Vergeltungsschläge im Namen der Terrorbekämpfung. Fadli lebte mit seiner Familie in Manbij, einem strategisch wichtigen Ort, der zwischen dem IS und den kurdischen Streitkräften umkämpft ist. Die türkische Artillerie beschießt nun aus Stellungen nahe der Grenze südlich von Gaziantep nach offiziellen Angaben das etwa 30 Kilometer entfernte Manbij, und die schwere Artillerie, die mit Tiefladern transportiert werden musste, war bereits da. Die Ziele liegen außer Sichtweite, auf große Entfernung und ohne näher positionierte Soldaten, die das Feuer lenken, ist Artillerie eine sehr ungenaue Waffe. Und auf wen zielte die türkische Armee, die nach offiziellen Angaben 500 schwere Geschosse in das Gebiet abfeuerte, wirklich?
»200 IS-Kämpfer wurden getötet«, meldeten die internationalen Medien unter Berufung auf Ministerpräsident Davutoğlu. Der US-amerikanische Sprecher der Koalition gegen den Terror, Oberst Steve Warren, bestätigte das am Freitag vergangener Woche. Die türkische Artillerie feuere »recht effektiv auf Manbij, den Ort, aus dem der Attentäter von Istanbul« stamme. Warren sitzt in Bagdad. Die Quelle seiner Informationen ist die Türkei.
»Wir arbeiten noch daran zu koordinieren, wo die türkische Artillerie dort operiert, aber ja, sie sind dort aktiv«, fuhr der offenbar doch nicht ganz zufriedene Warren fort. »Es wäre wünschenswert, wenn die türkische Artillerie in der Zukunft ankündigt, wo sie losschlägt, zur besseren Koordination.« Doch er betonte die gute Zusammenarbeit: »Es gab Wetterprobleme, deswegen konnten wir keine Luftangriffe beginnen, die türkische Artillerie ist da perfekt eingesprungen, so soll es sein.«

Bei einer solchen Informationspolitik der internationalen »Koalition gegen den Terror« ist es nicht verwunderlich, dass die Nachrichten aus der Region kaum Klarheit über die Situation verschaffen. So bleibt die Frage, bei welcher Operation die Türkei, deren Artilleriebeschuss ja eine schnelle Reaktion auf den Anschlag war, »eingesprungen« sein soll. Zudem lässt sich die Zahl getöteter IS-Kämpfer durch Luftaufklärung nicht feststellen, anders als Schäden an Gebäuden. Sind keine Luftangriffe möglich, hat es aber auch die Luftaufklärung schwer. Davutoğlus Angaben zufolge begannen die Angriffe bereits am Dienstag vergangener Woche, dem Tag des Anschlags, an dem World Weather Online fast wolkenlosen Himmel und sehr geringe Windgeschwindigkeiten für Manbij meldete, ebenso wie für Freitag, den Tag der Pressekonferenz Warrens. An den beiden Tagen dazwischen war es stark bewölkt.
Die »Wetterprobleme« betreffen wohl eher das Klima in der Koalition gegen den IS. Die US-Regierung möchte sie um jeden Preis zusammenhalten und ist zu diesem Zweck bereit, die dubiose türkische Politik zu rechtfertigen. Die Türkei hatte zuvor mehrfach betont, dass sie in Nordsyrien die Bildung eines kurdischen Korridors mit allen Mitteln verhindern werde. Die kurdischen Truppen der YPG und der IS bekämpfen sich derzeit vor allem in der Grenzregion, in der Manbij liegt. Verliert der IS die Stadt, wird die Verbindung zwischen Raqqa und Aleppo unterbrochen. Wenn die türkische Artillerie nun plötzlich die kurdischen Truppen unterstützte, wäre das eine bemerkenswerte Veränderung der gesamten bisherigen türkischen Politik.
Die türkische staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete am 15. Januar, der für den Kampf gegen den IS verantwortliche General Lloyd Austin habe die Absperrung der türkisch-syrischen Grenzen für ausländische Kämpfer gelobt. Auf derselben Pressekonferenz in Florida gab das US-Verteidigungsministerium Austins Pensionierung bekannt.
Insgesamt wirkt die türkische Darstellung des Terrors und der angeblichen Terrorbekämpfung, als glaube die Regierung, sie müsse sich nicht einmal die Mühe machen, offenkundige Ungereimtheiten zu vermeiden. Die westlichen Regierungen unterstützen sie ohnehin, innenpolitische Kritiker werden verfolgt. International wird das türkische Vorgehen gegen Akademiker, die eine Petition gegen das Töten in den Kurdengebieten unterschrieben haben, zwar verurteilt. Wichtig wäre allerdings, diese Entwicklung mit den allgemeinen Ereignissen in Beziehung zu setzen. Die türkische Regierung behauptet, die Akademiker seien Unterstützer des Terrorismus. Tatsächlich versucht eine breite Schicht der Zivilgesellschaft, sich der Verschleierung der Zusammenhänge hinter der Eskalation des Terrors in der Region zu widersetzen.
Den Terror schürt die türkische Regierung durch die einseitige Bekämpfung der Kurden und eine bestenfalls sporadische Bekämpfung des IS, dessen Attentäter immer dann in der Türkei tätig werden, wenn es der Regierung nützt. Die türkische Regierung instrumentalisiert die Konfusion. Jeder Terroranschlag in der Türkei hat der Regierung bislang mehr internationale Unterstützung beschert. Der Besuch des deutschen Innenministers nach dem jüngsten Anschlag stärkte wie der Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkels kurz vor den Wahlen in der Türkei die internationale Akzeptanz und Reputation Erdoğans und schwächte die Opposition im Land, die gerade versucht, die eigentlichen Zusammenhänge zu ergründen und zu thematisieren.