Über Edward Gorey

Flauschiges Alien

Seine Bildergeschichten wurden von Max Ernst, Oskar Kokoschka und Agatha Christie gerühmt. Es ist an der Zeit, Edward Gorey wieder neu zu entdecken.

Edward Gorey war ein Amerikaner mit britischem Humor und einem Hang zu viktorianischer Exzentrik. Das ist bei Weitem nicht der einzige Widerspruch im Leben und Schaffen des 1925 in Chicago geborenen, 2000 in Massachusetts gestorbenen Zeichners, dessen Bücher seit einiger Zeit im Lilienfeld-Verlag erscheinen. Es sind schmale, kleinformatige Bändchen, die Geschichten in Form einer Bilderfolge mit kurzen Texten in Prosa- oder Versform erzählen. Gorey wollte, dass seine Storys auf den Leser »leicht beunruhigend« wirken. Von den skurillen Parallelwelten voller Fledermäuse, Alligatoren, Totenköpfen, Männern mit Zylindern, Frauen in Morgenmänteln und Kindern in Knickerbockers zeigten sich Künstler wie Vladimir Nabokov, Max Ernst, Oskar Kokoschka und Agatha Christie fasziniert. Gorey wurde mit seinen rund 100 Buchveröffentlichungen weltberühmt, ist aber im deutschsprachigen Raum mittlerweile ein wenig in Vergessenheit geraten.
Seine Leidenschaft galt den Tieren und dem Ballett, insbesondere den Katzen und dem russischen Tänzer und Choreographen George Balanchine, der das klassische russische Ballett in die USA brachte und zu den Mitbegründern des New York City Ballet gehörte. Seine Aufführungen sah Gorey sich regelmäßig an. Zu seinen sexuellen Leidenschaften ist nur wenig bekannt, er starb, wie es heißt, »unverheiratet und kinderlos«.
Umso mehr Kinder findet man in seinen Geschichten. Seine Kinderfiguren sind Zwischenwesen. Mal sind es kleine Trottel, die von strengen Erwachsenen an die Hand genommen werden; mal fügen sie sich brav ein in das starre Ambiente herrschaftlicher Villen mit großem Kamin und schweren Vorhängen. Auf dem Kaminsims steht im besten Fall chinesisches Porzellan, im schlech­teren Fall eine Düsternis verströmende Urne. Keine Umgebung, die Kinder glücklich macht.
Wie eine Warnung an ein unge­borenes Kind vor der seltsamen Welt der Erwachsenen liest sich Goreys wunderbare Erzählung »Ein fragwürdiger Gast« (»The Doubtful Guest«), die er 1957 der damals schwangeren Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Alison Lurie widmete. Auch Lurie selbst vermutete später in einer Rezension, dass das ungezogene, pinguinartige Wesen, um das sich die Erzählung dreht, eigentlich ein Kind darstellt. Aber auch das typische Verhalten der von Gorey so geliebten Hauskatzen ist der stummen Gestalt eigen. Sie legt sich seelenruhig in Suppenterrinen oder vor die Eingangstür zum Salon der aristokratischen Familie und lässt sich nur äußerst ungern wieder vertreiben. Auf die absurde Idee, dass es stören könnte, kommt das Pinguinwesen nicht. Nicht zuletzt vereint das anarchische Tier Züge des Autors auf sich und teilt auch dessen Liebe zu Pelzmänteln und weißen Haus­schuhen.
Die Geschichte des fragwürdigen Gastes spielt mit trockenem Humor die Irritationen durch, die der Fremde, der Andere und der Außenseiter auslösen, zumal in einer Gesellschaft, deren Regeln starr und unverrückbar sind. Ihre Repräsentanten sind die Familie, bei der sich das Wesen ungefragt einnistet, und die nach Kräften versucht, das komische Viech und sein verstörendes Verhalten zu ignorieren. Letzlich bleiben der Gast des Hauses und die Familie einander fremd, man lebt stumm nebeneinander her, was bei aller Komik auch traurig ist. E.T., Mork vom Ork und natürlich Alf, der flauschige Alien, der den Alltag einer amerikanischen Kleinfamilie durcheinanderbringt, sind späte Nachfahren von Goreys komischem Pinguin.
»Ein fragwürdiger Gast« in der gelungenen Neuübersetzung von Alex Stern eröffnete 2013 die Gorey-Reihe des Lilienfeld-Verlags. Ebenfalls 2013 erschien »Die Wasserblüte«, 2014 folgte »Das erst kürzlich entjungferte Mädchen«, 2015 kam »Der andere Zoo« heraus. Goreys Bildgeschichten haben oftmals einen sexuellen Subtext, die zumeist schwarzweißen, fein schraffierten Zeichnungen stecken voller sexueller Symbole und Anspielungen. Die Geschichten sind stark von den Bildwelten des Surrealismus geprägt. Im »Entjungferten Mädchen« wird Sexualität explizit zum Thema gemacht. Gorey schlüpfte für dieses Buch in die Rolle der fiktiven Ratgeberautorin Hyacinthe Phypps, die als Kapazität auf dem Gebiet der Aufklärung junger Frauen vorgestellt wird und zahlreiche Sexratgeber verfasst habe. Miss Phypps habe authentische Darstellungen von Zeuginnen eingeholt und eines der lehrreichsten Bücher zu einem der wesentlichen Ereignisse im Leben der Frau geschrieben. Die Geschichten, zu denen Gorey auch die Illustrationen gefertigt hat, erzählen möglichst abseitige Fälle wie den einer jungen Frau, die als einer von zwölf Wochenendgästen in Lord Pilroys altem Schloss im schottischen Hochmoor weilt und von einem chinesischen Detektiv, der eigentlich die Ermordung des Hausherrn aufklären soll, entjungfert wird. In diesen Bildgeschichten wird schon mal etwas dicker aufgetragen; Gorey offenbart hier die robustere Seite seines Humors.
Wie sein berühmter Schriftstellerkollege und künstlerischer Ahne Lewis Carroll war auch Gorey ein Wanderer zwischen den Genres von ernster und komischer, Kinder- und Erwachsenenliteratur. Ob seine Werke der Jugendliteratur zuzurechnen seien, wurde immer wieder diskutiert. Nicht zuletzt die Gleichwertigkeit von Illustration und Text im Werk von Gorey ließ die Literaturkritik zunächst an Kinderbücher denken. Gorey selbst war unentschieden, ob sich seine Bücher an ein erwach­senes oder ein jugendliches Publikum richteten. Zahlreiche Kinderbücher wurden von ihm illustriert, auch ein Seminar für Jugendbuchillustrationen hat Gorey geleitet, dennoch hat er sich wiederholt gegen seine Zuordnung zur Jugendabteilung gesträubt. Auch wurde darüber gestritten, ob die Geschichten nicht zu brutal für den Nachwuchs seien. Tatsächlich wird in den Geschichten viel und plötzlich gestorben, Katas­trophen ereignen sich beiläufig, und auch den Kindern geschehen schreckliche Dinge; das aber verbindet Goreys graphische Novellen eher mit Jugendbuchklassikern wie den Märchen der Gebrüder Grimm und den Werken Wilhelm Buschs, als dass es sie vom Jugendgenre unterschiede.
Seit den Siebzigern arbeitete Gorey immer wieder für das Theater, schrieb Stücke und entwarf Bühnenbilder und Kostüme mit zumeist dem Gruselroman entlehnten Motiven. Für die Broadway-Adaption von »Dracula« (1977) entwarf er ein preisgekröntes, in Schwarzweiß gehaltenes Bühnenbild, das in jeder Szene durch ein grellrotes Objekt ergänzt wurde. Das Stück war ein Kassenschlager und galt beim Publikum als Kult. Heute kümmert sich eine vitale Fangemeinde um das vielgestaltige Erbe des Meisters. Sein Wohnhaus, genannt Elephant House, ist ein skurriles Museum, in dem es von Fledermauszeichnungen nur so wimmelt.
Nicht nur seine Obsession für die viktorianische und die edwardianische Zeit macht Gorey zum Vertreter einer untergegangenen Künstler­epoche. Auch die störrische Zurückweisung von Konventionen weist ihn als einen aus der Zeit gefallenen Künstler aus. Heute hätte es der Eigenbrötler wohl ungleich schwerer, eine Künstlerkarriere zu machen. Es ginge ja schon mit dem üppigen Pelzmantel los. Gorey war ein Tier-Maniac, der den Mantel als Zeichen seiner Verbundenheit mit dem ­Animalischen trug. Schwer vorstellbar, dass er damit heute im Kultur­betrieb noch durchkommen würde.
Edward Gorey: Ein fragwürdiger Gast. Aus dem Englischen von Alex Stern. Lilienfeld, Düsseldorf 2013, 32 Seiten, 12,90 Euro
Edward Gorey: Die Wasserblüte. Aus dem Englischen von Alex Stern. Lilienfeld, Düsseldorf 2013, 64 Seiten, 14,90 Euro
Hyacinthe Phypps/Edward Gorey: Das erst kürzlich entjungferte Mädchen: Die richtigen Worte in jeder bedenklichen Lage. Aus dem Englischen von Alex Stern. Lilienfeld, Düsseldorf 2014, 48 Seiten, 14, 90 Euro
Der andere Zoo: Ein Alphabet. Aus dem Englischen von Clemens J. Setz. Lilienfeld, Düsseldorf 2015, 56 Seiten, 15 Euro