Amerika zählt nach

»Ich habe auf das Katzenfutter gestarrt und mich gefragt, ob ich wirklich so hungrig bin«, erzählt Misty Plowright, die bei den Wahlen im November für das US-Repräsentantenhaus kandidieren wird, über ihre Kindheit. Obwohl ihre alleinerziehende Mutter drei Jobs hatte, reichte das Geld oft nicht aus. Nicht viele Menschen aus so armen Verhältnissen machen eine politische Karriere, bekannt wurde Plowright jedoch vor allem, weil sie die erste Transgender-Kandidatin für das Repräsentantenhaus ist. Am Dienstag vergangener Woche gewann sie die Vorwahl der Demokraten im fünften Distrikt Colorados mit einem Vorsprung von 16 Prozentpunkten. Sie gehört dem linken Flügel der Partei an und unterstützte Bernie Sanders, interessiert sich aber auch für Bürgerrechtsfragen der digitalen Zukunft und die ethischen Probleme, die aufkommen, »wenn wir eine empfindungsfähige Intelligenz erschaffen«. Doug Lamborn, ihr republikanischer Gegner, dürfte im Wahlkampf andere Themen und persönliche Angriffe bevorzugen. Plowright lebt im konservativ geprägten Colorado Springs mit ihrer Ehefrau Lisa zusammen, zum Haushalt gehört aber auch Sebastian, dem beide in Las Vegas bei einem Pokerturnier einen Ring schenkten. »Das betrachten wir als Heirat mit ihm«, sagt Plowright.
Ihre Wahlchancen mögen schlecht sein, dass es mit ihr und Misty K. Snow, die in Utah für den Senat kandidiert, nun zwei Transgender-Kandidatinnen für den Kongress gibt, gilt jedoch als Durchbruch. Überdies versprach Verteidigungsminister Ash Carter, dass innerhalb eines Jahres alle Beschränkungen für Trans­gender-Personen im Militärdienst aufgehoben werden. »Die Ansichten über sexuelle Identität haben sich schneller und radikaler geändert, als irgendjemand es vor einem Dutzend Jahren vorhergesehen hätte«, stellt der Politologe John J. Pitney, Jr. fest. Einer neuen Untersuchung des Williams Institute zufolge gibt es in den USA doppelt so viele Transgender-Personen wie bislang angenommen, nämlich 1,4 Millionen. »Es gibt ein Sprichwort«, sagte Gary J. Gates, Mitarbeiter des Instituts. »›Du zählst in politischen Kreisen nicht, bevor jemand nachzählt.‹«