Die romantische Verklärung der isländischen Fußballmannschaft

Trollen über Elfen

Der isländische Erfolg in diversen Sportarten ist wie überall durchkalkuliert – wie es sich für ein modernes Land gehört.

Wales gegen Island – so hätte, mit ziemlicher Sicherheit, das Finale der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich gelautet, wenn statt der Viertelfinals eine europaweite Volksabstimmung veranstaltet worden wäre. Und den Titel hätte dann Island gewonnen, das Land, in dem, wie in praktisch jedem Kommentar betont wurde, mehr Schafe als Menschen leben (dafür fallen in Deutschland täglich fast doppelt so viel Liter Gülle an, wie es Einwohner gibt, aber das ist ein anderes Thema).
Wirklich überraschend kam der sportliche Erfolg der isländischen Nationalmannschaft eigentlich nicht: Gleich im ersten Spiel der EM-Qualifikation im September 2014 schlug sie die Türkei klar 3:0, dann einen Monat später Lettland ebenfalls mit 3:0 und die Niederlande mit 2:0. Das Team verlor nur im November 2014 mit 1:2 in Tschechien und im Oktober 2015 mit 0:1 in der Türkei, dazu kamen zwei Unentschieden gegen Lettland und Kasachstan. Am Ende qualifizierte sich Island als Zweitplatzierter der Gruppe A, während die favorisierten Niederländer als Vierte nicht an der EM teilnehmen durften.
Dass das effiziente Team zum Liebling der Massen wurde, dürfte hauptsächlich an den romantisch-verklärten Vorstellungen der Miteuropäer von Land und Leuten liegen. Die riefen prompt einen Island-Troll auf den Plan, der während des Spiels Island–England die begeisterte Twitter-Welt mit ausgedachten Fakten über den Fußball im nördlichen Inselstaat versorgte. Dagur Hjartarson, eigentlich Literaturwissenschaftler und Buchautor, veröffentlichte unter anderem ein Bild einer mitten in einer verschneiten Einöde liegenden Tankstelle und schrieb dazu, dies sei der Arbeitsplatz des Torjägers Jón Dadi Böðvarsson im Winter, der wegen des widrigen Wetters nur im Sommer seiner Profes­sion als Kicker nachgehen könne. Ein weiteres Foto zeigte einen idyllischen Bauernhof, der dazugehörige Text lautete, dass Mittelfeldspieler Birkir Bjarnason im Juni und Juli normalerweise nicht Fußball spiele, weil er dann nämlich seinem Vater auf der Farm helfen müsse. Dazu erklärte Hjartarson isländische Besonderheiten wie die, dass der Vorname des Keepers, Hannes, »der, der fünf Schafe und eine Frau besitzt« bedeute und dass die Endung »son« in Nachnamen für »Elfe« stehe, während ein »sen« bedeute, dass der Namensträger nicht an Elfen glaube (und außerdem heiße »sen« übersetzt Hund auf einem Bauernhof).
Nach und nach dämmerte es der Twitter-Gemeinde dann allerdings doch, dass sie lediglich verarscht wurde, aber zu großer Empörung kam es nicht, weil über das Ausscheiden der Engländer gehöhnt und gleichzeitig eine Anzahl von Brexit-Witzen im mittleren Millionenbereich produziert werden musste.
Dabei ist Island nicht erst seit diesem Jahr ein erfolgreiches Sportland: 2008 hatten die Handballer bereits Silber bei den Olympischen Spielen gewonnen, 2014 qualifizierte sich die Basketball-Nationalmannschaft erstmals für die EM. Und die Fußballnationalspieler kicken durchweg als Profis im Ausland, in der isländischen ersten Liga spielt keiner der Stars.
Dass die professionelle Entwicklung von Sportarten in kleinen, finanziell gutsituierten Ländern ebenso problemlos möglich ist wie in großen Nationen, dürfte eigentlich keine Überraschung mehr sein. Dazu gehört es, Talente durch fachkundige Trainer früh zu sichten, rund 600 Fußballlehrer mit entsprechender Lizenz gibt es mittlerweile in Island. Eine weitere wichtige Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass die Talente nicht zu anderen Sportarten abwandern, was in Island unter anderem mit der Installation von Traglufthallen fürs Kicken im Winter ­gelang – früher hatten viele Spieler in den langen Schneemonaten ihre Liebe zu Hallensportarten entdeckt. Und ein weiterer entscheidender Punkt: kein Drama draus zu machen, dass Talente später ins Ausland gehen und dort Fußball spielen, sondern die dort gewonnenen Erfahrungen als Pluspunkte zu werten – wie es unter anderem Norwegen bereits in den neunziger Jahren relativ erfolgreich vorgemacht hatte. Da zudem international ein gewisses Überangebot an Fußballtrainern herrscht, die gern einmal irgendwo Natio­nalcoach werden möchten, ist man selbst in Ländern mit überschaubare Einwohnerzahl nicht länger darauf angewiesen, dass gerade ein passender einheimischer Fußballsachkundiger zur Verfügung steht.
So weit, kleinen Ländern zuzugestehen, dass auch sie in der Lage sind, moderne Scouting- und Trainingsmethoden zu gebrauchen, ist man jedoch noch nicht überall. Der ZDF-Kommentator Oliver Schmidt schilderte im Viertelfinalspiel Wales gegen Belgien die Spielzüge der ­Waliser in exakt dem Tonfall, in dem normalerweise Menschen putzige Kunststückchen ihrer Haustiere beschreiben, nämlich mit einer Mischung aus Rührung über so viel Niedlichkeit und herablassendem Staunen darüber, zu was die süßen kleinen Wesen so alles fähig sind. Dazu kam die Schadenfreude über die Favoritenniederlage, die bei deutschen Fernsehmoderatoren immer dann einsetzt, wenn mögliche Gegner der Nationalmannschaft früher als erwartet aus dem Turnier geworfen werden und sie sich entsprechend noch größere Hoffnungen auf den Titelgewinn machen können – wenn Deutschland allerdings gegen ein gern verächtlich als Fußballzwerg tituliertes Team verliert, ist dagegen Schluss mit niedlich und lustig, sondern großer Jammer angesagt.
Und so hofften im Viertelfinale Frankreich gegen Island viele auf den Sieg des Außenseiters, manche, weil sie das Traumfinale gegen Wales sehen wollten, manche, weil sie Island von Herzen den Sieg gönnten, und einige aus extrem ekligen Motiven. Wie Markus Ripfl, der Landesgeschäftsführer des Rings Freiheitlicher Jugend Wien, der den zweiten Treffer der Équipe tricolore so kommentierte: »2:0 für Multikulti gegen Island, schade.« Und wie Frauke Petry, die in Anspielung auf ein Zeit-Interview, in dem Wolfgang Schäuble gesagt: »Die Abschottung ist doch das, was uns kaputtmachen würde, was uns in Inzucht degenerieren ließe«, twitterte: »Schäubles Alptraum: die inzestuösen Isländer gleich im Viertelfinale.« Es folgte das, worauf Petry es mit ihrem sicherheitshalber sogar ganz vorne in ihrem Account angepinnten Tweet angelegt hatte, nämlich ein Shitstorm mit anschließenden Berichten über das Skandälchen.
Manche ihrer Anhänger nahmen das Ausscheiden der Isländer übrigens sehr persönlich und kündigten an, dass die deutsche Nationalmannschaft sich an Frankreich rächen werde. Alles wie immer also bei dieser Europameisterschaft: Sowie das putzige kleine Team der Herzen ausgeschieden ist, wird wieder hemmungslos geschlandet.