Proteste gegen die Regierung in Armenien

Unruhen und Abwanderung

Die zweiwöchige Geiselnahme in einer Polizeistation durch nationalistische Oppositionelle und die gewaltsamen Proteste gegen die Regierung sind Ausdruck der Krise des politischen Systems in Armenien.

Wie eine radikale und bislang unbedeutende Nationalistentruppe die politische Ordnung eines Landes ins Wanken bringen und im Nu Teile der Bevölkerung auf ihre Seite ziehen kann, zeigte sich im vergangenen Monat in Armenien. Am 17. Juli besetzten 31 Mitglieder der Bewegung »Founding Parliament« eine Polizeistation in der Hauptstadt Eriwan. Sie töteten zwei Polizisten und nahmen mehrere Beamte als Geiseln. Ihr Ziel war es, die Freilassung Jirair Sefiljans, des Anführers von Founding Parliament, zu erpressen. Dieser war am 30. Juni wegen un­erlaubten Waffenbesitzes inhaftiert worden.
Zwar scheiterte die bewaffnete Aktion, am 31. Juli ergaben sich die Geiselnehmer. Doch erreichten sie in der Zwischenzeit, dass sich bis zu 20 000 Armenierinnen und Armenier vor allem in Eriwan mit ihnen solidarisierten und bei Protestmärschen den Rücktritt der Regierung von Präsident Sersch Sargsjan forderten. Die Polizei schlug die Demonstrationen teils gewaltsam nieder. Auf beiden Seiten wurden Dutzende verletzt. Mehr als 20 Personen wurden inhaftiert und Journalisten an ihrer Arbeit gehindert.
Am Dienstag voriger Woche ordnete ein Eriwaner Gericht zudem den zwei­monatigen Arrest von drei Oppositionspolitikern der liberalen Heritage-Par­tei und der Bürgerbewegung »Rise up« an. Ihnen wird die Aufstachelung zu Massenunruhen vorgeworfen. Präsident Sargsjan versprach nach der Niederschlagung der Unruhen bei einem Treffen mit Staatsbediensteten, Vertretern der Armenischen Apostolischen Kirche und der Zivilgesellschaft, eine Regierung des »nationalen Einklangs« zu bilden. Davon seien jedoch die »Terroristen« Founding Parliament und ihre Unterstützer ausgeschlossen. »Probleme werden in Armenien nicht durch Gewalt oder Waffen gelöst«, sagte Sargsjan. »Eriwan ist weder Beirut noch Aleppo.«
Um zu verstehen, warum in der Südkaukasus-Republik im vergangenen Monat Demonstranten mehr Sympathie mit den Geiselnehmern als mit ihren Opfern zeigten, ist nicht nur ein Blick auf Founding Parliament notwendig, sondern auch auf die innen- und außenpolitische Situation Armeniens. Der 62jährige Präsident und frühere Verteidigungsminister Sargsjan, seit 2008 an der Macht, ist unbeliebt. Bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Korruption erzielte seine Regierung kaum Fortschritte. Die Abwanderung großer Teile der Bevölkerung nach Russland oder in die EU konnte er nicht stoppen. Armenien hatte 1990 noch mehr als 3,6 Millionen Einwohner. Mittlerweile sind es nach behördlichen Angaben nur noch knapp drei Millionen, viele Armenier gehen jedoch davon aus, dass selbst diese Zahl zu hoch gegriffen ist und es einige Hunderttausend weniger sind.
Überschattet wurde Sargsjans Amtszeit von mehreren Massenprotesten unter anderem gegen vermeintliche Unregelmäßigkeiten bei den Parlamentswahlen von 2012 und gegen Strompreiserhöhungen im vergangenen Jahr. Zudem änderte er, für einen postsowjetischen Staat wie Armenien ungewöhnlich, nach einem erfolgreichen Referendum im vergangenen Jahr die Verfassung des Landes. Beschlossen wurde die Transformation vom semipräsidentiellen zu einem parlamentarischen System. Der Wechsel könnte dazu führen, dass Sargsjan mit seiner Republikanischen Partei nach den Parlamentswahlen im kommenden Jahr länger an der Macht bleibt. Als Präsident darf er gemäß der Verfassung nur einmal wiedergewählt werden.
Für Richard Giragosian, den Direktor des Eriwaner Think Tanks Regional Studies Center, ist denkbar, dass sich in der spontanen Unterstützung für die Geiselnehmer in der Polizeistation vor allem Unzufriedenheit über die innenpolitische Situation ausdrückt. Die Ereignisse seien das Resultat einer »ernsthaften Unzufriedenheit im Land und einer aufgestauten Frustration über eine unpopuläre Regierung«, sagte Giragosian dem Fernsehsender al-Jazeera. Dass sich Teile der Bevöl­kerung bei den Demonstrationen aus Überzeugung der Founding-Parliament-Bewegung anschlossen, scheint in der Tat zweifelhaft. Die Gruppe stellt sich bewusst außerhalb des politischen Mainstreams und tritt nicht bei Wahlen an. Ihr Ziel ist es, ein Schattenparlament aufzubauen, das das ­jetzige System ersetzen soll. Gründungsmitglied Alexander Jenikomschjan sagte im April 2015 im Gespräch mit der Jungle World, dass Präsident Sargsjan Armenien in eine »kriminelle Oligarchie« verwandelt habe, die unrefomierbar sei. Founding Parliament setze sich daher dafür ein, die Infrastruktur und die Industrie des Landes komplett zu verstaatlichen. Der blinde und körperlich behinderte Jenikomschjan sitzt als mutmaßlicher Hintermann der Geiselnahme seit vergangenem Monat in Haft.
Präsident Sargsjans Aussage, dass Eriwan nicht Beirut sei, war wohl ein Seitenhieb auf die Herkunft der Geiselnehmer. Sowohl Jirair Sefiljan als auch Alexander Jenikomschjan sind Diaspora-Armenier aus dem Libanon. Sefiljan war während des libanesischen Bürgerkriegs an der Verteidigung des armenischen Viertels in Beirut beteiligt. Zudem gilt er in Armenien als verdienter Veteran, da er im Krieg um die Enklave Bergkarabach (1988–1994) ­gegen Aserbaidschan in mehreren Schlachten als Kommandeur fungierte. Jenikomschjan war Mitglied der Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia (Asala), die in den siebziger und achtziger Jahren Mordanschläge auf türkische Diplomaten und deren Familien verübte. In weiten Teilen der armenischen Gesellschaft werden derartige Biographien respektiert. Sie erklären auch die Militanz der Gruppe.
Es gibt jedoch einen weiteren Grund, warum die spontane Unterstützung für eine obskure und marginale Oppositionsgruppe brisant für die Region ist. Founding Parliament verfolgt neben einer staatssozialistischen auch eine ultranationalistische Programmatik. Nicht nur fordert sie von der Türkei die Rückgabe vormals armenischer Terri­torien. Auch im Bergkarabach-Konflikt mit Aserbaidschan tritt sie kompromisslos auf. Karabach und die umliegenden Provinzen gehören völkerrechtlich zu Aserbaidschan, werden aber seit dem Waffenstillstand von 1994 de facto nur noch von Armeniern bewohnt und militärisch besetzt gehalten. Das Wiederaufflammen der Kämpfe im April mit mehr als 120 Toten hat die Popularität Präsident Sargsjans weiter vermindert. Die insgesamt erfolglosen Friedensgespräche, die vor allem über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und trilateral mit Russland geführt werden, sahen nämlich Verhandlungen über die Rückgabe besetzter Gebiete an Aserbaidschan vor. Allein weil sich Sargsjan, der selbst aus Karabach stammt und im Krieg eine führende Rolle spielte, nicht entschieden genug gegen territoriale Konzessionen ausspricht, brandmarkte Jirair Sefiljan ihn öffentlich als Verräter. Eine Auffassung, die Umfragen zufolge die meisten Armenier teilen. Für eine friedliche Lösung des Konflikts sind das keine guten Zeichen.