Die Ausbildung und Einschleusung von Jihadisten nach Europa durch den »IS« hat lange vor den jüngsten Anschlägen begonnen

Jihad zum Selbermachen

Der »Islamisch Staat« fordert seine Anhänger mittlerweile nicht nur zum Losschlagen in ihren Herkunftsländern auf. Er bildet auch Jihadisten, die es bis nach Syrien geschafft haben, gezielt aus und schleust sie für Anschläge zurück.

Rund 1 200 Todesopfer haben die Anschläge des »Kalifats« bisher weltweit außerhalb Syriens und des Irak gefordert, die Hälfte davon bei Attacken, die sich gegen den Westen richteten. Und jetzt steht auch die fränkische Provinz auf der Liste der Anschlagsorte, das Internetmagazin des »Islamischen Staats« (IS), Dabiq, führt im Vorwort stolz die Liste der jüngsten Angriffe an, von Orlando und Dhaka bis Würzburg und Ansbach.
Dabiq erklärt auch noch einmal, wogegen das »Kalifat« etwas hat: Die aktuelle Ausgabe mit dem Titel »Break the cross« widmet sich dem »Christentum, Feminismus, Liberalismus und Atheismus«, es geht mit anderen Worten um »Sünde, Aberglaube und Säkularismus«, um »Transgenderismus« und die Legalisierung von Marihuana und um Sodomie. Kurz, eine »heidnische« Welt der »liberalen Säkularisten« und »skeptischen Atheisten«, die ihren »hedonistischen Süchten« gegen die »natürliche menschliche Veranlagung« fröhnt. Das zeigt sich vor allem am »perversen« westlichen Frauenbild, dem ein ganzer Artikel – »for women« – gewidmet ist, mit Kronzeugen von Nietzsche bis Freud, »einem der Konstrukteure westlicher Dekadenz«. Die »echte Frau« sei im Westen nämlich zur bedrohten Spezies geworden, immer mehr Frauen ließen dort Mutterschaft, Züchtigkeit, Femininität und Heterosexualität hinter sich. Man wird den Verdacht nicht ganz los, dass sich die Programmatik des IS ohne Islam in Teilen der deutschen Gesellschaft einer gewissen Zustimmung erfreuen könnte.
Aber den IS bekommt man nicht ohne den »echten Islam«, jedenfalls nicht ohne das, was die Jihadisten darunter verstehen, und es gehört zu den seltenen Vorzügen dieser Gruppierung, dass sie deutlich sagt, was sie bewegt. So verweist man den Umstand, dass islamistische Anschläge im Westen so gerne als »sinnlos« bezeichnet würden und man dort unablässig frage, wieso die Kalifatskämpfer den Westen bloß so hassten, nahezu ironisch in die Propaganda­ecke. Journalisten hätten eben Angst, etwas politisch Inkorrektes zu schreiben, und wer den »Tabus ›Der-Islam-ist-eine-friedliche-Religion-Clique‹« widerspreche, werde zur einflusslosen gesellschaftlichen Randgruppe erklärt. Dagegen stellt das Magazin klar: De Westler wird zuallererst gehasst, weil er ein Ungläubiger ist, weil zweitens die westlichen Gesellschaften säkular und liberal sind und drittens Atheismus verbreiten. Erst lange danach, darauf weist Dabiq unmissverständlich hin, kommen Beweggründe wie die westlichen Angriffe auf muslimische Länder zum Tragen. Mit verständnisvollen antiimperialistischen Plattitüden braucht man sich den Kalifatskämpfern jedenfalls nicht anzudienen. Auch die Christen, denen man immerhin ein Lebensrecht bei Unterwerfung zugesteht, werde man, so Dabiq, hassen, solange sie Ungläubige blieben.
Beim Siegeslauf der Jihadisten im Sommer 2014 und bei der Gründung des Kalifats sah es so aus, als würde man auf Anschläge im Ausland zugunsten der Konzentration auf territoriale Gewinne im Irak und Syrien verzichten. Mittlerweile ist klar geworden, dass die Vorbereitungen für solche Attentate mit der Ausbildung und Einschleusung von Terroristen nach Europa bereits Anfang 2014 begonnen haben. Es waren dann vor allem zwei Botschaften des Sprechers des Kalifats, Abu Mohammed al-Adnani, im September 2014 und im Mai dieses Jahres, die das internationale Anschlagsprogramm der Jihadisten umrissen haben. Im September 2014, unmittelbar im Zusammenhang mit dem Beginn der US-amerikanischen Luftangriffe auf dem Gebiet des IS, forderte al-Adnani zu Anschlägen »einsamer Wölfe« im Westen auf: Wenn man sie schon nicht mit Sprengsätzen oder Kugeln töte, könne man Amerikanern, Franzosen oder ihren Verbündeten auch den Schädel mit einem Stein einschlagen, sie mit dem Messer abschlachten oder mit dem Auto überfahren.
Die Verlautbarung löste eine erste Welle von eher spontan wirkenden kleineren Anschlägen von angeblichen Einzeltätern aus, die möglicherweise auch dazu dienen sollten, von den gleichzeitig laufenden Vorbereitungen für die Anschläge in Paris abzulenken.
Al-Adnani, ein Syrer, der mit bürgerlichem Namen Taha Falaha heißt, gehörte 2003 zu der ersten Generation von Jihadisten, die gegen die Amerikaner im Irak kämpften. Al-Adnani ist nicht nur Sprecher des Kalifats, mittlerweile ist er zugleich Gouverneur der syrischen Gebiete und gilt als Chef der Amn al-Kharji, der Geheimdienstabteilung, die weltweit für den Terror zuständig ist. Er verbindet die weltweiten Anschläge direkt mit dem »Kalifen« Abu Bakr al-Baghdadi – und ist fünf Millionen Dollar US-amerikanisches Kopfgeld wert. Im Mai 2016 nahm al-Adnani die militärische Defensive, in die der IS geraten ist, zum Anlass, darauf hinzuweisen, dass die Ausschaltung von Führern und selbst der Verlust der Großstädte Raqqa und Mossul das Kalifat nicht besiegen könnten. Wie schon einmal werde man sich notfalls in die Wüste zurückziehen. Tatsächlich galt die Vorläuferorganisation des Kalifats 2010 als besiegt – bis letztlich der überstürzte US-amerikanische Rückzug aus dem Irak und der nunmehr ungebremste iranische Einfluss auf die irakische Regierung der sunnitischen Terrorgruppe wieder eine Chance gaben.
Al-Adnani malte in seiner letzten Botschaft ein präzises Bild des Terrors aus, das man sich beim Kalifen wünscht: Die »Sklaven Allahs« sollten, zumal der Weg aus Europa nach Syrien schwierig geworden ist, die »Kreuzfahrer« besser zu Hause »Tag und Nacht in Schrecken versetzen und terrorisieren, bis jeder Nachbar seinen Nachbarn fürchtet«. Dazu gehörte auch die deutliche Ansage, dass Anschläge zivile Ziele treffen sollen – umso schmerzhafter und abschreckender seien sie.
Auch die aktuelle Ausgabe von Dabiq erklärt, hinter den »feindlichen Linien« könne man am schmerzhaftesten zuschlagen. Am besten mit einem möglichst simplen, effektiven Plan. Aber ganz so einfach ist das nicht mit den »einsamen Wölfen«.
Dass der IS seine Anhänger mittlerweile nicht nur zum Losschlagen in ihren Herkunftsländern auffordert, sondern auch Jihadisten, die es bis nach Syrien geschafft haben, gezielt ausbildet, um sie für Anschläge zurückzuschleusen, ist mittlerweile gut dokumentiert. So hat der jüngst verurteilte Bremer Harry Sarfo, der aus Syrien zurückgekehrt war, umfassend über diesen Ausbildungsweg ausgesagt, wie die New York Times gerade dokumentiert hat. Hier wird aber auch klar, dass das Ka­lifat viele Ressourcen in diese Arbeit steckt – allein mit psychisch labilen Einzeltätern, die spontan agieren, ist im engeren Sinne des Wortes kein Staat zu machen, und auch keine längerfristige Terrorkampagne. Wobei die in Deutschland diskutierte Frage, ob solche Attentäter nun Jihadisten oder eher Krankheitsfälle seien, bizarr wirkt: als ob sich beides nicht perfekt ergänzen würde.
Vermutlich gibt es drei Kategorien, in die man die Terroraktionen unter dem Label des Kalifats klassifizieren kann: direkt aus Syrien angeleitete Attentate mit größerem Vorlauf wie in Paris und Istanbul; Einzelaktionen von Rückkehrern oder Sympathisanten, die entweder nur einen grob umrissenen Auftrag haben oder lediglich Internetkontakt mit Angehörigen der Amn al-Kharji; und schließlich den tatsächlichen »einsamen Wolf«, der ganz auf sich alleine gestellt handelt, aber von der IS-Ideologie inspiriert ist. Die Grenze zwischen den beiden letzten Kategorien ist fließend und es stellt sich zumal nach den eher improvisierten Anschlägen in Würzburg und Ansbach die Frage, inwieweit es den völlig auf sich gestellten Einzeltäter überhaupt gibt. Immerhin haben offensichtlich beide Attentäter zumindest via Internet zu IS-Hintermännern Kontakt gehabt, und der Täter von Ansbach soll nach Angaben des IS bereits jahrelang Mitglied der Organisation gewesen sein. Der Rückkehrer Harry Sarfo hat darauf hingewiesen, dass es IS-Agenten im Ausland gebe, die über Mittelsmänner, etwa frische, offiziell unbescholtene Konvertiten, mit Anschlagswilligen in Kontakt treten. Hassan Hassan und Michael Weiss haben in ihrem umfassenden Buch »Inside the Army of Terror« als erste über den Geheimdeinst des Kalifats, die »Amaniyat«, berichtet und in der Türkei 2014 ein Gespräch mit einem smarten IS-Geheimdienstler geführt, ganz ohne Bart und im Anzug, der dort für den Aufbau von Schläferzellen zuständig war.
Die wirksame Drohung und Werbung mit den »einsamen Wölfen« hat der IS jedenfalls von der Konkurrenz bei al-Qaida abgekupfert. Deren Internet-Magazin Inspire – auch das Vorbild für Dabiq – hat bereits im Frühjahr 2014 mit gestylten Anzeigen für improvisierte Terrorattentate geworben.
»Open Source Jihad« sollte den Bombenbau in der heimischen Küche ermöglichen. Wunschziel waren bei al-Qaida noch hauptsächlich die USA, dann erst England und Frankreich und andere »Kreuzfahrerstaaten«. Für die selbstgebastelten Autobomben solle man sich möglichst große Menschenmengen suchen, Sportveranstaltungen, Festivals oder Bahnhöfe. Verlockend erschienen den Jihadisten natürlich auch politische Symbolorte wie die Parade zum französischen Nationalfeiertag – oder ein Ziel an der franzö­sischen Riviera. Nizza lässt grüßen.