Der EU-Gipfel in Bratislava

Das Gespenst von Bratislava

Beim Gipfel in der slowakischen Hauptstadt haben sich die politischen Konflikte in der Europäischen Union gezeigt.

Die Europäische Union befindet sich in der tiefsten Krise seit ihrem Bestehen, und wohl niemand kann derzeit sagen, wie es um ihre Zukunftsaussichten bestellt ist. Zum ersten Mal nach dem Referendum über den britischen EU-Austritt trafen sich vergangene Woche die Repräsentanten der 27 EU-Mitgliedstaaten ohne Großbritannien im slowakischen Bratislava, um über die Zukunft der Union zu diskutieren. Symbolträchtig rückten sie dafür auf dem Ausflugsschiff »Regina Danubia« eng zusammen. »Der Geist von Bratislava«, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel es pathetisch nannte, sollte neue Einigkeit demonstrieren. Wir lassen uns nach dem britischen ­Votum nicht auseinanderdividieren, so lautete die Botschaft.
Man muss allerdings lange suchen, um noch einen gemeinsamen Nenner zu finden, auf den sich die EU einigen kann. Schuldenkrise, Flüchtlinge oder der Umgang mit der Türkei – in allen wesentlichen Fragen gehen die Ansichten weit auseinander. Gerade jene Staaten gehören zu den Gewinnern des Gipfeltreffens, die das Auseinanderdriften der Union maßgeblich vorangetrieben haben. Mit großer Genugtuung vermerkte der ungarische Regierungssprecher Zoltán Kovács, dass Deutschland sich bei der Flüchtlingsfrage nun doch bewege. Die Visegrád-Staaten, zu denen neben Ungarn auch Polen, Tschechien und die Slowakei zählen, hatten auf dem Gipfel dazu den Begriff der »flexiblen Solidarität« geprägt. Demnach sollen die Staaten selbst entscheiden können, wie sie zur gemeinsamen Flüchtlingspolitik beitragen wollen. Der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán hat seine Absicht bereits deutlich signalisiert. In einem Referendum will er Anfang Oktober über die Aufnahme von Flüchtlingen abstimmen lassen. Dass eine große Mehrheit in Ungarn sich dagegen aussprichen wird, gilt als sicher.
Die Visegrad-Staaten fühlen sich nach dem britischen Votum in ihrer Position gestärkt und verfügen über mehr Macht und Einfluss. Es ist die Region in Europa, die wirtschaftlich am schnellsten wächst und in der Finanz- und Handelspolitik den deutschen ­Vorgaben viel eher entspricht als die südlichen EU-Staaten. Wenn Deutschland weiterhin eine strikte Einhaltung des Stabilitätspakts durchsetzen will, dann ist es künftig in höherem Maße auf die osteuropäischen Staaten angewiesen. Entsprechend könnte die Bundesregierung den Visegrád-Staaten bei der Migrationspolitik entgegenkommen.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass die konkreten Beschlüsse des Gipfels vor allem der Grenzsicherung galten. »Ungeregelte Ströme«, wie im vergangenen Jahr, solle es nie wieder geben, hieß es in der Abschlusserklärung, eine »vollständige Kontrolle der ­Außengrenze« müsse gewährleistet werden. Dafür soll nun zunächst Bulgarien unterstützt werden, um die illegale Einwanderung zu ­unterbinden. Gefördert werden soll angesichts der »geopolitischen Herausforderungen« zudem die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, auch wenn die Beschlüsse hier eher vage ausfallen. Im Gespräch sind sogenannte Battlegroups für Auslandseinsätze und ein gemeinsames EU-Hauptquartier.
Mit der erwünschten Harmonie war es aber nach dem Gipfel schon wieder vorbei. Denn gewinnen die Visegrád-Staaten an Einfluss, stehen die Verlierer ebenfalls fest. Insbesondere Italien muss dann damit rechnen, dass es sowohl bei der Schuldenkrise wie auch bei Migrationsfragen zunehmend auf sich alleine gestellt ist.
Er habe gehofft, Antworten auf die Krise zu finden und »nicht nur eine Bootsfahrt zu machen«, sagte der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi dem Corriere della Sera. Wenn es so weitergehe, »werden wir bald nicht vom Geist von Bratislava, sondern vom Gespenst von Europa sprechen«, erklärte er.