im Gespräch mit Petra Pau über fünf Jahre parlamentarische und juristische Aufklärung

»Der Resignation entgegen­wirken«

Seit 2006 ist Petra Pau Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Obfrau der Partei »Die Linke« im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Parlaments. Im Gespräch mit der »Jungle World« zieht sie Bilanz aus fünf Jahren parlamentarischer und juristischer Aufklärung des NSU-Komplexes.

Vor fünf Jahren erfuhr die breite Öffentlichkeit von der Existenz der Gruppe, die sich selbst als »Nationalsozialistischer Untergrund« bezeichnete. Dieses Ereignis wird als »Bekanntwerden« oder als »Selbstenttarnung« bezeichnet. Welche Formulierung ziehen Sie vor? Wir haben von Anfang an von einer »Selbstenttarnung« gesprochen, denn ohne die Bekenner-DVDs, die von Beate Zschäpe und eventuell weiteren Mitgliedern des Netzwerks in den Tagen nach dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt und nach dem Brand der gemeinsamen Wohnung in der Frühlingsstraße in Zwickau verschickt wurden, würden die Strafverfolgungsbehörden eventuell noch immer gegen die Angehörigen der Opfer der rassistischen Mordserie und die Bewohner der Keupstraße in Köln ermitteln. Im Untersuchungsausschuss gab vor einigen Wochen ein Verfassungsschützer mit dem Pseudonym »Lothar Lingen« zu, während der »Aktion Konfetti« die Akten, die mutmaßlich den NSU und sein Umfeld betrafen, vernichtet zu haben. Was bedeutet das? Und wo blieb die Empörung? Es war definitiv ein Tiefpunkt in den vier Jahren Berichterstattung über den NSU-Komplex, dass mit wenigen Ausnahmen fast alle Medien mit Beate Zschäpes Nullaussage am Oberlandesgericht München die Titelseiten aufgemacht haben, und nicht darüber berichtet haben, dass am selben Tag im Bundestagsuntersuchungsausschuss eine zentrale Frage im NSU-Komplex beantwortet wurde. Der langjährige Referatsleiter des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), Lothar Lingen, hat in einer Vernehmung durch den Generalbundesanwalt und das BKA im Herbst 2014 ganz offen zugegeben, dass er vorsätzlich und absichtlich die Akten von Thüringer Neonazis und V-Leuten des BfV geschreddert hat. Die fehlende Empörung über diese vorsätzliche Vernichtung von Beweismitteln hat meiner Ansicht nach zwei Gründe. Zum einen haben wir in den vergangenen fünf Jahren von mindestens einem Dutzend Schredderaktionen in den Landesämtern und im BfV, aber auch jüngst beim Generalbundesanwalt erfahren. Die Begriffe »Geheimdienste und Schreddern« fallen vielen Leuten als erstes ein, wenn man sie nach ihrem Wissen zum NSU-Komplex befragt. Die allermeisten Menschen, mit denen ich bei Veranstaltungen, aber auch beim Einkaufen darüber spreche, gehen inzwischen davon aus, dass die Geheimdienste sowieso lügen und Beweise vernichten – aber auch davon, dass wir das nie mehr aufklären werden. Dieser Resignation und Ohnmacht etwas entgegenzuwirken, auch darum geht es mir im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss. Glücklicherweise hat es in den letzten Wochen doch noch den einen oder anderen Bericht über die Vernehmung von Lothar Lingen gegeben. Was sind für Sie die wichtigsten Erkenntnisse, die die Arbeit der Bundesuntersuchungsausschüsse gebracht hat? Der zweite NSU-Untersuchungsausschuss hat zwei sehr wichtige neue Erkenntnisse gebracht. Endlich können wir die Frage nach dem Motiv für die Vernichtung der V-Mann-Akten beantworten. Ein hochrangiger BfV-Referatsleiter hat hier vorsätzlich Beweismaterial vernichtet, um die parlamentarische und juristische Aufklärung des NSU-Komplexes zu behindern. Erst im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss haben wir festgestellt, wie nah das BfV mit seinen zentralen V-Leuten in der Neonaziszene in Thüringen und Sachsen dem untergetauchten NSU-Kerntrio gekommen ist. Wir haben mehrere Zeugen gehört, die uns sehr glaubwürdig davon berichtet haben, dass Ralf Marschner, alias V-Mann Primus des BfV, sowohl Uwe Mundlos in seiner Baufirma beschäftigte, als auch regelmäßig Besuch von Beate Zschäpe in seinem Laden hatte. Jetzt müssen wir der Frage weiter nachgehen, welche Informationen im BfV tatsächlich zu welchem Zeitpunkt über die Existenz des NSU und über seine Taten vorgelegen haben. Was sind die wichtigsten offenen Fragen? Die zentrale Arbeitsfrage ist ganz klar. Was wussten die Geheimdienste zu welchem Zeitpunkt über die Aktivitäten des NSU-Kerntrios sowie seiner Unterstützerinnen und Unterstützer und was haben die Geheimdienste mit diesem Wissen gemacht? Die Behauptung der Unwissenheit und der Unterschätzung des Rechtsterrorismus in den neunziger Jahren, mit der die Geheimdienste versucht haben, uns, die Öffentlichkeit und die Parlamente seit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 zu täuschen, zerbröckelt in diesen Tagen vor aller Augen und erweist sich als glatte Lüge. Wir werden am 10. November Zeugen des BKA, aber auch die damalige Präsidentin des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) aus Nordrhein-Westfalen zur Tat in der Kölner Probsteigasse und zum Nagelbombenanschlag in der Keupstraße hören. Anfang Dezember werden wir dann Zeugen hören zur Neonaziszene und zu möglichen Unterstützern des NSU-Kerntrios in Dortmund. Beide Male geht es um die Frage, ob es Unterstützer aus den lokalen Strukturen von Blood & Honour und Combat 18 gab. Wir wissen ja, dass es in Dortmund zum Zeitpunkt des Mordes an Mehmet Kubaşık eine aktive Combat-18-Zelle gab, in der mindestens ein V-Mann des LfV Nordrhein-Westfalen aktiv war. Die Frage ist doch: Was wussten die Geheimdienste wirklich? Auch über die Verbindungen der Dortmunder Neonazis nach Kassel? Wir wissen, dass die Dortmunder Combat-18-Strukturen den bewaffneten Kampf – so wie der NSU – führen wollten und dass einzelne Aktivisten bewaffnet waren und bewaffnete Überfälle begangen haben. Deswegen muss der Ausschuss untersuchen, welche Kenntnisse das BfV und das LfV Nordrhein-Westfalen über die mutmaßlichen Unterstützer des Kerntrios des NSU in Dortmund und Kassel hatte, welche Rolle die V-Leute dabei gespielt haben und welche Rolle die V-Leute des BfV und LfV Nordrhein-Westfalen grundsätzlich in diesen Strukturen hatten. Was ist bekannt über die Verwicklung des NSU-Umfelds in die sogenannte organisierte Kriminalität? Böhnhardt hatte seit den frühen neunzier Jahren enge Freunde, die Grenzgänger zwischen Kriminalität und Neonaziszene waren. Einer seiner engsten Freunde, mit dem er zusammen zeitweise in Jugendhaft saß, ist vor ein paar Jahren wegen eines bewaffneten Raubüberfalls auf einen Geldboten 1999 in Pößneck verurteilt worden. Die Beute haben die Nazis damals zum Kauf eines Bordells namens Blue Velvet verwendet. Ein anderer enger Freund war Beschuldigter im Fall des 1995 ermordeten 9jährigen Bernd B. aus Jena-Wintzerla. Dieser Freund von Böhnhardt hat bei seiner Vernehmung nach der Selbstenttarnung des NSU behauptet, Böhnhardt sei für den Tod des Jungen verantwortlich. Und Waffen, Sprengstoff und Drogen gehörten für viele Neonazis aus dem Thüringer Umfeld des Kerntrios zum normalen Repertoire. Organisierte Kriminalität, Kinderprostitution – es scheint kein Verbrechen zu geben, dass man Nazis nicht zutrauen kann. Doch warum werden solche Taten ausgerechnet zuerst den Opfern des rassistischen Terrors zugetraut? Es ist ja wirklich eine Binsenweisheit, dass bei Neonazis und in der extremen Rechten die Doppelmoral groß geschrieben wird. Der Fall von Stefan B. aus Neuburg am Inn, der 2014 eine 12jährige Schülerin missbrauchte und ermordete, und gleichzeitig auf seiner Facebook-Seite Parolen wie »Todesstrafe für Kinderschänder« postete, ist da leider kein Einzelfall. Es wurden schon in den neunziger Jahren Frauenmorde durch Neonazis aus purer Frauenverachtung begangen. Der Frauenhass, der dieser spezifischen Form von Gewalt zugrunde liegt, ist tief in der Ideologie der Ungleichwertigkeit, wie sie die extreme Rechte vertritt, verankert. Diese Gewalt richtet sich insbesondere gegen politische Gegnerinnen und Sexarbeitende. Rückblickend ist seit den Neunzigern viel geschehen, es gab unglaubliche Enthüllungen über die rassistische Gewalt und den rassistischen Alltag in Gesellschaft und Behörden. Welchen Einfluss hat das darauf, wie Sie die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in diesem Land sehen? Jeder weitere Geheimdienstskandal, aber auch jeder weitere rassistische Angriff bestärkt mich darin, die Forderung der Angehörigen der NSU-Mordopfer und der Verletzten der Bombenanschläge nach vollständiger und umfassender Aufklärung als Leitmotiv für meine Arbeit im NSU-Untersuchungsausschuss zu nehmen. Wir müssen dafür sorgen, dass diese auf institutionellem Rassismus beruhende Täter-Opfer-Umkehr, die den NSU-Komplex prägt und das Leben der Angehörigen der Mordopfer über Jahre zur Hölle gemacht hat, und die wir jetzt wieder in Bautzen sehen, auch als Rassismus benannt wird. Welche positive Bilanz würden Sie ziehen, aus dem, was geschehen ist? Gibt es etwa mittlerweile in der Mehrheitsgesellschaft ein geschärftes Bewusstsein für Rassismus, rechte und rassistische Gewalt oder Ignoranz gegenüber diesen Themen? Ich würde sagen, wir haben es auch hier mit einer polarisierten, gespaltenen Gesellschaft zu tun. Der Teil der Gesellschaft, der im letzten Jahr und schon davor und jetzt immer noch Flüchtlinge aufnimmt und unterstützt, diejenigen, die eine offene Gesellschaft mit gleichen Rechten für alle wollen, dieser Teil der Gesellschaft ist auch durch den NSU-Komplex für die Existenz von Rassismus sensibilisiert worden. Und dann gibt es andere gesellschaftliche Gruppen, die ideologisch in der Nähe des NSU stehen: in der Abwehr einer offenen Gesellschaft bis hin zu offenen Aufforderungen zum »Rassenkrieg«. Und die negativen Folgen? Der Verfassungsschutz ist nach anfänglicher Kritik durch die Novelle des Verfassungsschutzgesetzes gestärkt aus der Affäre hervorgegangen. Ja, das ist leider so. Das BfV hat seit der Selbstenttarnung des NSU mehr Stellen und mehr Kompetenzen bekommen als zuvor . Er ist als Hauptverantwortlicher für das Staatsversagen im NSU-Komplex als Hauptgewinner vom Feld gegangen und das, bevor überhaupt die Aufklärungsarbeit beendet ist. Trotz der Aufklärung, die es, wenn auch oft sehr schleppend, gegeben hat, fällt die öffentliche Empörung seit Jahren bescheiden aus. Sind die Deutschen zu autoritätshörig? Der NSU hat im Kern auf die demokratische Gesellschaft, auf die offene Gesellschaft gezielt. Diese Botschaft, dass wir diese Mord- und Sprengstoffanschläge als Angriffe auf uns alle begreifen müssen, ist leider noch nicht überall angekommen. Wenn das so wäre, dann würden die Betroffenen der aktuellen rechten Angriffe viel mehr Solidarität erfahren und dann hätte es viel mehr Demonstrationen und Proteste geben müssen. Eine Partei ist auf dem Vormarsch, die rassistisch auftritt, deren Führungsmitglieder versuchen, den Begriff des Völkischen zu rehabilitieren, der immerhin als Ideologie der NSU-Terroristen in der Münchner Anklageschrift festgehalten ist. Hinkt die Aufklärung der politischen Realität in Deutschland hinterher? Nur wenn uns eine vollständige Aufklärung im NSU-Komplex gelingt, wird es uns auch gelingen, die aktuelle Welle rechter Gewalt effektiv zu bekämpfen und das Entstehen einer neuen Generation des Terrors von rechts zumindest zu behindern.