Wie sich das Verhältnis zwischen EU und Großbritannien ändern wird

You better walk alone

Der geplante Ausstieg Großbritanniens aus der EU wird wirtschaftliche Folgen haben. Keine guten, darin sind sich fast alle Wirtschafts­wissen­schaftler einig. Lediglich eine kleine Gruppe von Ökonomen sagt blühende Landschaften und ein sattes Wirtschaftswachstum voraus.

Die Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich (UK) und der Europäischen Union (EU) war stets stabil, aber nie besonders innig. Es ging meist ums Geld. Schon in den achtziger Jahren war Großbritannien skeptisch, was die damals von Frankreich und Deutschland vorangetriebene politische Einigung Europas anging. Gemeinsamer Handel, freie Zirkulation von Waren und Dienstleistungen, wie sie die Vorgängerin der EU, die Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), ermöglichte, waren willkommen. Die politische Unabhängigkeit wollte man sich dennoch bewahren. Trotzdem schien ein Austritt aus der EU bis zuletzt unwahrscheinlich. Denn auch wenn die Briten manchmal etwas schrullig wirkten und ihnen viele Sonderrechte eingeräumt wurden, gehörten sie selbst­verständlich zur EU.
Doch am Ende war die Unabhängigkeit wichtiger. Nicht umsonst trägt jene Partei das Wort im Namen, die den Ausstieg am entschiedensten propagiert hat: Die rechtspopulistische United Kingdom Independence Party (Ukip). Bei der Europawahl 2004 erreichte die ehemalige Splitterpartei 16,1 Prozent der Stimmen.
2004 wurde die Europäische Union um zehn neue Mitgliedsländer erweitert, allesamt Staaten in Osteuropa. Großbritannien war neben Schweden und Irland eines der Länder, die ihren Arbeitsmarkt direkt nach der Erweiterung der EU für Zuwanderung öffneten. Vor allem im Niedriglohnsektor wurde nach Arbeitskräften gesucht. Genau dort fanden viele Menschen aus den neuen Mitgliedsstaaten Arbeit – und traten vermeintlich in Konkurrenz zu einheimischen Arbeitnehmern.
Aufgeschreckt durch den Rechtsruck bei den Wahlen bemühte sich die britische Regierung ab 2013 um Reformen zur Begrenzung der EU-internen Zuwanderung. Trotzdem erreichte die Ukip bei der Europawahl 2014 27,5 Prozent der Stimmen, bei der britischen Parlamentswahl 2015 waren es trotz des Mehrheitswahlrechts 12,6 Prozent. Die Briten bewegte auch weiterhin die Sorge um ihre Arbeitsplätze. Bis zuletzt wurde über Arbeitsmarktreformen verhandelt, gereicht hat es nicht. Besonders in ländlich geprägten Regionen und in den Gegenden mit einem großen Anteil niedrig qualifizierter Bevölkerung war die Zustimmung zum EU-Austritt am höchsten.
Ob die zukünftige Entwicklung der britischen Wirtschaft für prekär Beschäftigte und den Niedriglohnbereich weniger bedrohlich sein wird, ist fraglich. Die Gegner der EU legen Wert auf nationale Unabhängigkeit – Unabhängigkeit von Vorschriften aus Brüssel zu Arbeitsrecht, Sozialgesetzgebung und Regulierung des Finanzsektors. Großbritannien sollen keine Hindernisse bei der Liberalisierung der Wirtschaft im Weg stehen. Passend dazu stammt eine der wenigen optimistischen Prognosen für die britische Wirtschaft von den »Economists for Brexit«, einer Gruppe EU-kritischer Ökonomen. Die Vorsitzenden der Gruppe sind Gerard Lyons und Patrick Minford. Lyons ist seit 2013 oberster wirtschaftspolitischer Berater von Boris Johnson, Minford ist Anhänger der marktradikalen Ideen Milton Friedmans und hat schon während seiner frühen wissenschaftlichen Karriere zu Theorien der rationalen Erwartungen geforscht. Sie kalkulieren mit der Möglichkeit sinkender Gehälter zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der britischen Wirtschaft, erreicht dadurch, dass Großbritannien wieder selbst über seinen Außenhandel bestimmen kann. Zugrunde legen sie standardisierte und hoch vereinfachte Wirtschaftsmodelle und – in der Tradition von Adam Smith – rational agierende Marktteilnehmer.
Selbst wenn die britische Wirtschaft durch den EU-Austritt einen ökonomischen Vorteil hätte, basierte dieser auf sinkenden Gehältern. Diese würden sich natürlich zuerst bei den Menschen bemerkbar machen, die selbst für den »Brexit« gestimmt haben. Dass der Außenhandel wirklich einträglicher würde und die Unternehmen günstigere Preise an die Verbraucher weitergäben, ist Spekulation. Auch ob es wirklich, wie von den »Economists for Brexit« kalkuliert, zu mehr ausländischen Direktinvestitionen kommt, ist fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass diese von der herrschenden Unsicherheit während der langen Verhandlungen zwischen EU und Großbritannien blockiert werden. Und gerade der Finanzsektor wird nicht von der EU allein, sondern durch internationale Abkommen reguliert, die auch nach dem EU-Austritt in Kraft bleiben. Rationale Akteure würden sich an solchen Unsicherheiten nicht stören, glauben die »Economists for Brexit«; dass für wirtschaftliche Entscheidungen jedoch persönliche Präferenzen und weiche Faktoren ausschlaggebend sind, scheinen sie außer Acht zu lassen.
Die meisten anderen Prognosen, vom britischen Arbeitgeberverband CBI über die OECD bis zur WTO, sehen Groß­britannien künftig in einer misslichen Lage. Die EU ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner des Vereinigten Königreichs. Neue Handelsschranken würden die niedrigen Einkommensschichten noch stärker treffen als sinkende Gehälter. Wissenschaft und Kultur profitieren von Geldern der EU. Noch ist es allerdings zu früh, um die Wirkung des Austritts zu beurteilen. Aufgrund hoher privater Nachfrage ist die Wirtschaftsleistung Großbritanniens vom dritten auf das vierten Quartal 2016 sogar um 0,6 Prozent gewachsen und liegt damit weiterhin leicht über dem Durchschnitt in der EU.
Aber auch für die EU ist der Austritt Großbritanniens ein entscheidender Einschnitt. Das Königreich war immer wichtig für die Beziehungen zu den USA, geographisch und politisch ein Vorposten in der Nordsee und wichtigster Verbündeter der Großmacht. Nicht zuletzt gehören mit Großbritannien und Frankreich zwei ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates zur EU. Künftig wird es nur noch Frankreich sein – vorausgesetzt, das Land bleibt in der EU. Denn der Austritt Großbritan­niens könnte einen Dominoeffekt auslösen, angestoßen von rechten Populisten. Umso mehr beharren die verbleibenden Mitglieder auf einem zügigen Austritt des Vereinigten Königreichs, sozusagen als abschreckendes Beispiel. Die EU als selbsternannter Hort des Humanismus läuft Gefahr, international weiter an Bedeutung zu verlieren; besonders, wenn der neue US-Präsident wie angekündigt vor allem mit Einzelstaaten statt Staatenbünden.
Es ist zu befürchten, dass Zerwürfnisse zwischen EU und Vereinigtem Königreich entstehen, die sich nicht so schnell wieder bereinigen lassen. Premierministerin Theresa May hat deutlich gemacht, dass sie keinen Sonderstatus für die Beziehungen mit der EU anstrebt. Während weltweit immer mehr Staaten den Wert der Zusammenarbeit erkennen, hofft Großbritannien in der globalisierten Welt auf das Glück im Alleingang. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Hoffnung erfüllt. In Schottland mehren sich unterdessen die Stimmen für einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich und einen ­Eintritt in die EU.