Populismus gegen Israel
Sigmar Gabriel ist ein guter Wahlkampfstratege, das muss man ihm lassen. Bereits als er Anfang des Jahres Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten der SPD machte, stellte er das unter Beweis. Es war eine spektakuläre Personalrochade, perfekt inszeniert. Schulz spielte dabei zwar die Hauptrolle, aber Gabriel schrieb das Drehbuch, führte Regie, leuchtete alles gut aus und übernahm die wichtigste Nebenrolle. Am Ende des Schauspiels stand ein neuer, beliebter Kanzlerkandidat und Vorsitzender im Rampenlicht, der der SPD das erste Umfragehoch seit Jahren bescherte. Erstmals seit der Zeit Gerhard Schröders sah es wieder so aus, als könnten die Sozialdemokraten den Kanzler stellen. Doch zu dieser Geschichte gehört noch ein weiteres, wichtiges Detail: Gabriel machte sich selbst zum deutschen Außenminister, als Nachfolger des zum Bundespräsidenten gewählten Frank-Walter Steinmeier.
Aus dem neuen Bericht geht hervor, dass Antisemitismus mit Israelbezug bei 40 Prozent der Bevölkerung auf Zustimmung stößt – eine wichtige Wählergruppe, die es zu erschließen gilt.
Mittlerweile ist es zwar wieder ein bisschen ruhiger um den neuen Kanzlerkandidaten und die SPD geworden. Der anfängliche Hype hat sich gelegt, die Umfragewerte haben sich stabilisiert und so richtig scheint niemand daran zu glauben, dass Schulz nach der Bundestagswahl Angela Merkel im Bundeskanzleramt ablösen wird. Doch Gabriel, der seinen neuen Job wohl nicht schon nach einem halben Jahr an den Nagel hängen will, hat noch ein paar Asse im Ärmel. Er will es sein, der Schulz, den er seinen Freund nennt, zum Bundeskanzler macht, und wichtiger noch: Er will derjenige sein, der der SPD wieder alte Kraft verleiht. So versucht Gabriel alles, was der SPD nutzen könnte, also alles, um Sympathien bei den Deutschen zu sammeln.
Ende März war Mahmoud Abbas, der amtierende Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, zu Besuch in Berlin. Bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung wünschte er sich Deutschland als Vermittler im Konflikt mit Israel. Am Folgetag traf er mit Gabriel zusammen. Nach dem Treffen nannte Gabriel Abbas, der in seiner Dissertation den Holocaust geleugnet hatte, auf Twitter seinen »Freund« und fügte hinzu, Deutschland stehe zur sogenannten Zweistaatenlösung und unterstütze »den Aufbau staatlicher Strukturen in Palästina«. Einen Monat später brachte Gabriel sich vor seinem Antrittsbesuch in Israel selbst als Vermittler ins Spiel – ganz im Sinne seines Freundes Abbas. Gabriel, der einst in Hebron von »Apartheid« gesprochen hatte und wegen der öffentlichen Freundschaftsbekundung gegenüber Abbas ohnehin wegen offenkundiger Befangenheit für eine Vermittlerrolle in dem Konflikt ausscheidet, konnte sicher sein, von Israel eine Abfuhr zu kassieren. Diese erhielt er dann auch umgehend vom israelischen Botschafter in Deutschland, Yakov Hadas-Handelsman. Derart vorbelastet brach Gabriel vergangene Woche zu seiner Nahostreise auf.
Gerade als Gabriel an Yom Hashoah, dem israelischen Holocaust-Gedenktag, in Israel ankam, wurde im Bundestag der Bericht des »unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus« vorgestellt. Der 300seitige Bericht stellt an die Bundesregierung eine Reihe von Forderungen zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland. Die wichtigste, die nach der Einsetzung eines Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, wurde von der SPD bereits zurückgewiesen. Ein Großteil der Empfehlungen des vorangegangenen Berichts zum Thema wurde unzureichend bis gar nicht befolgt. Volker Beck (Die Grünen), der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe im Bundestag, befürchtet, dass daraus ein leeres Ritual werden könnte – alle vier Jahre einen neuen Expertenkreis berufen, dessen Empfehlungen dann ignoriert werden.
Aus dem aktuellen Bericht geht hervor, dass Antisemitismus mit Israelbezug in Deutschland bei 40 Prozent der Bevölkerung auf Zustimmung stößt. Selbst wenn man die Zahl bezweifelt – einiges deutet darauf hin, dass die Zustimmung sogar noch größer sein könnte –, ist das ein alarmierend hoher Anteil. Oder aber eine wichtige Wählergruppe, die es zu erschließen gilt. Gabriel dürfte wissen, dass viele Deutsche Israel im Allgemeinen und den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu im Besonderen hassen und dass deshalb Kritik an Israel in jeglicher Form bei den Deutschen auf fruchtbaren Boden fällt. Dass er als Vermittler von Israel zurückgewiesen wurde, ist so gesehen ein Erfolg: Der deutsche Außenminister, der ja nur das Beste – Frieden! – für unterdrückende Israelis und unterdrückte Palästinenser will, ist bei den starrköpfigen Israelis abgeblitzt. Für viele Deutsche dürfte es einer persönlichen Kränkung gleichkommen, dass die Israelis nicht am deutschen Wesen genesen wollen.
Eigentlich hätte Gabriel bei seinem Antrittsbesuch in Israel Netanyahu treffen sollen. Doch der israelische Ministerpräsident sagte den Termin kurzfristig ab, weil Gabriel darauf bestand, sich nicht nur mit offiziellen Vertretern Israels und der Palästinensischen Autonomiebehörde zu treffen, sondern auch mit den Organisationen B’Tselem und Breaking the Silence. Gabriel muss spätestens seit Februar gewusst haben, dass Treffen mit diesen Vereiningungen für Israel einen diplomatischen Affront darstellen. Damals hatte sich der belgische Ministerpräsident Charles Michel ebenfalls mit Vertretern beider Organisationen getroffen – nachdem Netanyahu ihn gebeten hatte, nicht länger Organisationen finanziell zu unterstützen, die den israelischen Streitkräften Schaden zufügten. Die Treffen wurden erst nach der Abreise Michels durch eine belgische Pressemitteilung öffentlich bekannt. Daraufhin ließ Netanyahu den belgischen Botschafter einbestellen.
Bei B’Tselem und Breaking the Silence handelt es sich keineswegs nur um harmlose, »regierungskritische« NGOs, wie sie von vielen deutschen Medien dargestellt werden. Breaking the Silence versucht mittels anonymer Berichte von Soldaten, der israelischen Armee allerlei Verfehlungen nachzuweisen. Allerdings konnte die Fernsehsendung Hamakor, die Zugang zu den Quellen und Urhebern der Berichte von Breaking the Silence hatte, im vergangenen Jahr nachweisen, dass die Mehrheit der Zeugenberichte falsch oder irreführend ist. Mittlerweile gibt es für derlei politisches Agieren einen Begriff: fake news. Die andere NGO, B’Tselem, denunziert Israel als »Apartheidstaat« und hat dem jüdischen Staat vorgeworfen, Nazimethoden anzuwenden. Beide Strategien werden im Bericht des »unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus« als Beispiele für israelbezogenen Antisemitismus genannt. Dass Gabriel sich trotzdem mit dieser Organisation getroffen hat und dafür auf ein Treffen mit dem israelischen Ministerpräsidenten verzichtete, bringt den Widerspruch zwischen staatsoffizieller Antisemitismusbekämpfung und dem deutschen Agieren im sogenannten Nahostkonflikt auf den Punkt.
Gabriel ist ein guter Wahlkampfstratege – oder, mit einem anderen, weniger schmeichelhaften Wort: ein Populist. Der Eklat wurde von ihm nicht nur in Kauf genommen, sondern war offenbar gewollt. Denn klar ist, dass es ihm Sympathien einbringt, wenn er sich Israel gegenüber als starker Mann inszeniert und dem in Deutschland verhassten Netanyahu die Stirn bietet. Zweifelsohne ist dieses Kalkül aufgegangen: In der Süddeutschen wurde Netanyahu als »Wladimir Tayyip Netanyahu« verunglimpft, in der Taz das »Ende der Leisetreterei« bejubelt und in der Spiegel-Morgenlage hieß es, die »historisch bedingte Sonderbehandlung Israels« stoße an ihre Grenzen. »Sonderbehandlung« – das war im Nationalsozialismus eine euphemistische Umschreibung für die Ermordung von Juden und anderen. Der Spiegel-Kolumnist und Freitag-Verleger Jakob Augstein schließlich frohlockte, Gabriel habe »Tapferkeit vor dem Freund gezeigt«.
Die linksliberalen Medien feierten ihren Außenminister, der keine Rücksicht mehr auf historischen Ballast nimmt, endlich durchgreift, und den Israelis zeigt, wo der Frosch die Locken hat. Welche Organisationen antisemitisch sind, bestimmt jedenfalls nicht der israelische Ministerpräsident und auch kein Expertenkreis im Bundestag, sondern das bestimmen die Deutschen – vertreten durch ihren Außenminister. In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau schrieb Gabriel nach der Reise: »Es ist an der Zeit, dass sich die Europäer – und die Deutschen – Israel und Palästina heute wieder verstärkt widmen.« Die Israelis dürften das vollkommen zu Recht als Drohung begreifen.