Von Seattle nach Hamburg. Ein Rückblick auf die Gipfelproteste der vergangenen 20 Jahre

Was bisher geschah

In Hamburg findet die größte internationale Gipfelmobilisierung seit langem statt. Vor fast zwanzig Jahren wurde diese Protestform zum Kennzeichen der globalisierungskritischen Bewegung. Ein Rückblick auf die internationale Geschichte der Gipfelproteste von Seattle bis Hamburg.

Die »weltpolitische Elite« auf der einen Seite, der »Gipfel der Solidarität« auf der anderen, dazwischen eine »rote Zone« und, unter unzähligen anderen, hat sich »einer der größten schwarzen Blöcke, die es in Europa jemals gegeben hat«, in Hamburg angekündigt.

In diesem Sommer erleben Begriffe, Parolen und Debatten ein Revival, die in den vergangenen 20 Jahren die Geschichte linker Bewegungen in Europa und den USA geprägt haben. Bereits 2001, nach ihrem tragischen Höhepunkt in Genua, wurde die globalisierungskritische Bewegung für tot erklärt.

Spätestens seit dem G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 gelten Gipfelproteste als obsolet.

Ein kleiner Rückblick auf Inhalte, Rhetorik, Ziele und Zusammensetzung der Protestbewegungen der vergangenen zwei Jahrzehnten zeigt: Vieles klingt ähnlich und doch ist alles anders. Vor allem der politische, ökonomische und gesellschaftlicher Kontext hat sich geändert.

Der Protestzyklus, der 1999 anlässlich der Ministerkonferenz der Welthanelsorganisation (WTO) in Seattle begann, richtete sich gegen die »neoliberale Globalisierung« und ihre »Machtzentren«, die man in den transnationalen Institutionen, insbesondere der globalen Finanzwirtschaft, identifizierte: der WTO, der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Dann ­kamen die Gipfeltreffen – Seattle, Prag, Göteborg, Genua, Davos, Heiligendamm.

Nach etlichen Versuchen des Gipfelstürmens passierte ab 2008 wirklich etwas Neues, das linke Bewegungen zu einer Reflexion über Inhalte, Kampfformen und Bündnisse zwang: die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise und die Austeritätspolitik, die aus ihr folgte.


Die »Altermondialisten«, die das, was sie »Globalisierung« nannten, nicht bekämpften, sondern anders gestalten wollten, unterschieden sich fundamental von den internationalistischen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre. Obwohl die Romantik der nationalen Befreiung noch eine Rolle spielte, ging es diesem neuen Internationalismus nicht um den Aufstand des Proletariats – von dem zumindest ein Großteil der Bewegung ohnehin keinen richtigen Begriff hatte –, sondern um Partizipation und Empowerment der Zivilgesellschaft. Nichts anderes bedeutete etwa der viel geschmähte Slogan »Think global, act local« – den viele radikale Linke damals zum endgültigen Beweis für den Provinzialismus der globalisierungskritischen Bewegung und deren Verabschiedung von der richtigen, auf den Klassenkampf setzende Kapitalismuskritik erklärten.

Nach dem G8-Gipfel in Genua versuchte man, den Empowerment-Ansatz zu institutionalisieren. Die Form war die der Europäischen und Weltsozialforen. Dabei versammelten sich vor ­allem am Anfang der nuller Jahre zwar Zehntausende Menschen, die »eine ­andere Welt« für möglich hielten, jedoch ohne gemeinsame Themen, Posi­tionen oder Strategien zu formulieren.

Erst als die Schockstarre nach den ­jihadistischen Anschlägen des 11. September 2001 nachgelassen hatte, fand man im Frühjahr 2003 als Friedensbewegung wieder zusammen auf den Straßen, als es darum ging, gegen das universelle Feindbild USA zu demons­trieren.

Nach etlichen Versuchen des Gipfelstürmens passierte ab 2008 wirklich etwas Neues, das linke Bewegungen zu einer Reflexion über Inhalte, Kampfformen und Bündnisse zwang: die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise und die Austeritätspolitik, die aus ihr folgte.

Im Gegensatz zu Gipfelprotesten, die tatsächlich in Form und Inhalt nicht viel anderes sein konnten als eine symbolische Demonstration von Gegenmacht, wurde in den sozialen Kämpfen, die sich in verschiedenen europäischen Ländern gegen die Austeritätspolitik richteten, neben ökonomischen und politischen auch existentielle ­Fragen thematisiert. Plötzlich waren die Opfer des Krisenmanagements nicht mehr nur diejenigen, die in den Sweatshops des globalen Südens Billigkleidung für den westlichen Markt produzieren. Es ging um das Leben im Herzen der Metropolen der westlichen Welt – von Europa über Israel bis in die USA –, um eine ganze Generation, der eine Zukunftsperspektive verweigert wird, um die Reorganisierung des gesellschaftlichen Lebens in einer Situ­ation des sozialen Notstands.

Forderungen, die zehn Jahre zuvor eher theoretisch diskutiert worden waren, bekamen mit der Krise für viele junge Leute eine konkrete Dimension. Die großen geopolitischen Fragen von Krieg und Frieden, die Kritik an multinationalen Konzernen und die globale Umweltzerstörung gerieten in den Hintergrund.

Die soziale Frustration wurde größer, die alltäglichen Kämpfe um Arbeit, Wohnraum, Bildung, Gesundheitsversorgung und Bleiberecht bestimmten die Proteste.

Im Unterschied zu den globalisierungskritischen Bewegungen zwischen Ende der neunziger und Anfang der nuller Jahre, die viel Wert auf ihren transnationalen Charakter legten, hatten die acampadas an der Puerta del Sol in Madrid, die Besetzung des Syntagma-Platzes in Athen und des Gezi-Parks in Istanbul sowie die Massendemonstrationen für soziale Gerechtigkeit in Tel Aviv und die Sitzblockaden von »Occupy Wall Street« einen territorialen ­Bezug.

Das war eine Stärke und eine Schwäche zugleich. Stark machte sie der Umstand, dass an diesen physischen Orten versucht wurde, reale Alternativen zum herrschenden Krisenregime zu schaffen. In den Zeltstädten von Athen und Madrid entstand kurzzeitig eine selbstorganisierte, solidarische Infrastruktur, es wurde versucht, einerseits materielle Alltagsbedürfnisse zu befriedigen, andererseits neue Formen der politischen Aktion und Partizipation zu testen. Dass die Öffentlichkeit damals zunächst Mühe hatte, die »Anführer« dieser Bewegungen ausfindig zu machen, zeigt, dass organisierte Strukturen wie Parteien, Gewerkschaften oder NGOs zumindest in der Anfangsphase nicht die wichtigste Rolle spielten. Es entstanden politische und soziale Dynamiken, die solche Institutionen nicht brauchten.

Jene Proteste richteten sich gegen die politische und wirtschaftliche Lage in den jeweiligen Ländern, trotzdem waren sie durch das unpolitischen Moment der »Empörung« geprägt. Das verlieh ihnen zwar auf den ersten Blick Sprengkraft, erwies sich jedoch als Schwäche, denn es setze keine dauerhafte Dynamik in Gang. Die Krisenproteste blieben ein Abwehrkampf, eine Reaktion auf den sozialen Notstand. Empörung allein birgt selten subversives Potential, es sei denn, man betrachtet die Kritik am Prinzip der politischen Repräsentation, also die Weigerung, Forderungen an die Politik zu stellen, schon als Subversion – wie etwa der Theoretiker Michel Hardt im Interview mit Jungle World 2011.

Mit der Regierungsübernahme von Syriza in Griechenland endete der Traum, eine politische Alternative zum europäischen Krisenregime sei möglich. Der Aufstieg der spanischen Bewegungspartei Podemos ist nach dem Wahlsieg der Konservativen im vergangenen Jahr vorerst gestoppt, Projekte wie DiEM25 und verschiedene Ansätze für ein »Europa von unten« bleiben ­inhaltlich unbestimmt.

Ähnlich wie der tödliche Schuss gegen Carlo Giuliani in Genua 2001 beendete die brutale Repression der Proteste im Gezi-Park in Istanbul den Zyklus der Platzbesetzungen. Seitdem schaut die Linke in Europa machtlos zu, wie in der Türkei eine Diktatur entsteht. Weder dagegen noch gegen die von Deutschland diktierte Austeritätspolitik noch gegen die Flüchtlingspolitik der EU – der nächste europäische »Notstand« nach der sogenannten Griechenlandkrise – artikulierte sich eine Linke, die sich als »europäisch« bezeichnete.

Die »Blockupy«-Proteste hätten eine Gelegenheit sein können, praktische Solidarität mit den internationalen Kämpfen gegen das deutsche Krisenregime zu organisieren. Doch bei ­diesen Protesten war Kritik an der Rolle Deutschlands, wie Bini Adamczak und Jakob Apfelböck in der Jungle World schrieben, eher am Rande zu hören. Und so wurde vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt randaliert, statt vor dem deutschen Finanzministerium in Berlin zu demonstrieren. »Das liegt auch daran, dass antideutsche Linke ihr Wissen selten in die breiten Blockupy-Bündnisse hineintragen, sondern sich mit Provokation zum Zwecke der Provokation und ­externer Kritik an anderen Linken begnügen. Als wäre der Nationalsozia­lismus aus linken Massenbewegungen hervorgegangen, als betreibe nicht Deutschland, sondern Attac die Verarmungspolitik in Südeuropa«, so Adamczak und Apfelböck.

Auch heute wird kritisert, die Gipfelproteste seien reine Symbolpolitik: »Eine konkrete Verbesserung für uns Lohnabhängige wird dadurch nicht ­erkämpft«, mahnten die Genossen der FAU Hamburg vergangene Woche in dieser Zeitung. Woanders beschwert man sich darüber, dass Krawallkiddies in Markenklamotten in Hamburg »nichts am Kapitalismus ändern werden« oder dass die Politik der G20 sich von den Protesten nicht beeinflussen lassen wird.

Die Kritik der Klassenkampf-Essentialisten ist so alt wie die Gipfelproteste selbst. Sie ist berechtigt, aber genauso Teil der Inszenierung wie die Aufrufe linker Gruppen zur kommenden Revolution. Am Kapitalismus wird sie auch nichts ändern.