Nur Philosemiten kaufen beim Juden
Die Deutschlehrerin ist verwundert, Masha interessiert sich viel mehr für ihre Augenbrauen als für Lessings Ringparabel. Fühlt sie sich vielleicht unterfordert? Das Mädchen ist doch Jüdin und die haben doch so viele Schriftsteller hervorgebracht und außerdem sind sie ja auch das Volk des Buches.
Was der Lehrerin in diesem Gedankenspiel durch den Kopf geht, ist Philosemitismus, weil ein positives Klischee vom Juden an sich auf einen jüdischen Menschen projiziert wird, in diesem Beispiel das Mädchen Masha, das jedoch diesem Klischee einfach nicht genügen will.
Der Begriff des Philosemitismus wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland geprägt, zunächst als polemischer Vorwurf der Gegner der Judenemanzipation an deren Befürworter, die Liberalen. Denen wurde unterstellt, den »jüdischen Kapitalisten« nach dem Mund zu reden, da sie von ihnen finanziert würden. Als politischer Kampfbegriff tauchte die Rede vom Philosemitismus in der Bundesrepublik der siebziger Jahre wieder auf und diente der pauschalen Abwehr von Antisemitismusvorwürfen. Doch nun waren es Linke, die damit operierten. 1975 hatte Rainer Werner Fassbinder das Theaterstück »Die Stadt, der Müll und der Tod« veröffentlicht, in dem ein Protagonist, der das Klischee eines jüdischen Geldsacks verkörpert und »der reiche Jude« genannt wird, eine tragende Rolle spielte. Daraufhin entbrannte eine Kontroverse, die weite Kreise zog und zu der die Zeit Fassbinder interviewte. Eine Frage lautete: »Sie fürchten also, dass der Philosemitismus, zu dem wir fast alle erzogen worden sind, der eine Art Spielregel im bundesrepublikanischen Leben ist, einen neuen Antisemitismus fördern könnte?« Fassbinder antwortete: »Absolut. Robert Neumann hat gesagt: Philosemiten sind Antisemiten, die die Juden lieben.«
Dass der Philosemit ebenso wie der Antisemit Juden nicht als Individuen wahrnimmt, sondern als uniforme Einheit, der bestimmte Attribute eigen sind, ist eine Tatsache. Wo Antisemiten allen Juden grenzenlose Geldgier unterstellen, attestieren Philosemiten ihnen einen besonderen Sinn für Kunst oder Philosophie. Fassbinder aber unterstellte seinen Kritikern Philosemitismus, um sein Stück gegen Antisemitismusvorwürfe zu immunisieren, ein Stück, in dem die Figur eines jüdischen Investors mit den klassisch antisemitischen Attributen versehen und »als Blutsauger, Spekulant, Betrüger, Mörder und zudem als geil und rachsüchtig« dargestellt wird, wie die FAZ damals bemerkte. Fassbinders Botschaft: Der Philosemitismus, also der Antisemitismus mit umgekehrtem Vorzeichen, sei in der Bundesrepublik die Normalität. Handele man entgegen dieser falschen Norm, gehe man gegen den verdrehten Antisemitismus vor. Die Kritik an Juden, gleich in welcher Schärfe, gleich in welcher Gestalt, macht eine Person also nicht zum Antisemiten, sondern im Gegenteil zum Anti-Antisemiten. Wenn es Philosemitismus genannt wird, dass an Jüdinnen und Juden lediglich dieselben moralischen Maßstäbe angelegt werden wie an den Rest der Gesellschaft, verschiebt sich der Referenzrahmen und ein diffamierender Umgang erscheint als gesunde Normalität. Antisemitismus kann es dann gar nicht mehr geben. Er wird in die Vergangenheit oder an den rechten Rand, zur NPD etwa, ausgelagert.
Etwas anders verhält es sich, wenn Juden ihren Kritikern Philosemitismus vorwerfen. Auf dem Blog des Verschwörungstheoretikers Ken Jebsen ereiferte sich beispielsweise die antiisraelische Aktivistin Evelyn Hecht-Galinski kürzlich darüber, »dass sich ein antisemitischer Philosemitismus ausbreitet, der Verbrechen des ›jüdischen Staates‹ legalisieren will, die durch nichts zu legalisieren sind, und der gerade auch jüdische Israel-Kritiker als Antisemiten verunglimpft, und das 72 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz! Da meinen doch gewisse ›Nazi-Enkel‹, jüdischen Bürgern erklären zu wollen, was Antisemitismus ist und was antisemitischer Judenhass ist!« Hecht-Galinski behauptet also, dass deutsche Nichtjuden qua Herkunft nicht verstehen können, was Antisemitismus ist, und Juden, wiederum qua Herkunft, nicht antisemitisch argumentieren können.
Hecht-Galinski behauptet, dass Juden qua Herkunft nicht antisemitisch argumentieren können.
Ähnliches legt der Publizist und ehemalige Rabbinerstudent Armin Langer in seinem jüngsten Beitrag für Zeit Online unter dem Titel »Die Angst der Juden vor den Judenfreunden« nahe. Dort führt er aus, »die Nachfahren der Opfer der Shoah« würden von den »Nachfahren der Täter dämonisiert, diffamiert und delegitimiert – mit dem Argument, dass sie sich gegen Nazismus einsetzen würden«. Er folgert: »Der Antisemitismus wird umdefiniert, aus den Opfern werden Täter gemacht.« Langer fordert, endlich über den »destruktiven Philosemitismus in der deutschen Gesellschaft und besonders innerhalb der antideutschen Linken zu reden.«
Sicher mag die eine oder der andere als »antideutsch« Firmierende ein gehöriges Maß an Philosemitismus an den Tag legen, der sich in Hebräischlernen oder dem Verlangen nach Geschlechtsverkehr mit Jüdinnen und Juden ausdrückt, und sicherlich sollten die Betroffenen einmal über eine Psychotherapie nachdenken. Aber das ist es nicht, worüber Langer sprechen möchte.
Lieber beschwert er sich darüber, dass Linke die »Jewish Antifa Berlin« kritisieren. Die »Jewish Antifa«, die Langer absurderweise als »eine der größten jüdischen Bürgerinitiativen in der Bundesrepublik« bezeichnet, ist eine besonders wirre Gruppe der antiisraelischen Boykottbewegung BDS, an deren antisemitischer Motivation kein Zweifel bestehen dürfte. Mitglieder dieser Gruppe zogen am diesjährigen »Nakba-Tag« – »Intifada bis zum Sieg« gröhlend – durch Berlin-Neukölln und veröffentlichen auf ihrer Website Statements wie: »Es ist erstaunlich, dass diejenigen, die einen ›Islamischen Staat‹ ablehnen würden und sicherlich auch die Idee, staatlich zugestandene Rechte und Freiheiten an die ethnische und religiöse Zugehörigkeit seiner Bürger und Bürgerinnen zu binden, keinerlei Bedenken bezüglich eines ›Jüdischen Staates‹ haben.«
Die dumpfe Ideologie einer solchen Gruppe zu kritisieren, ist nicht philosemitisch, sondern schlicht vernünftig. Dass Langer sich mit der »Jewish Antifa« solidarisiert, wundert keinen, der sich die Internetpräsenz seiner Initiative »Salaam-Shalom« einmal angesehen hat, wo es heißt: »Dabei sollte man sich ins Gedächtnis rufen, dass die Ablehnung der zionistischen Bewegung bis zur Zerstörung des europäischen Judentums durch die Nazis ein wesentlicher Bestandteil jüdischer Diskurse war. Auch wenn dieser Umstand heute gänzlich marginalisiert wird, ist die Existenz einer genuin jüdischen antizionistischen Tradition eine historische Tatsache.«
Eine andere historische Tatsache ist, dass die von NS-Deutschland und seinen Verbündeten mit Leidenschaft unternommene »Endlösung« der Judenfrage das Existenzrecht des Jüdischen Staates zum kategorischen Imperativ fast aller Jüdinnen und Juden werden ließ. Wer sich gegen die Dämonisierung und Delegitimierung Israels stellt, handelt nicht philosemitisch, sondern solidarisch mit einem Staat, der dem jüdischen Volk den Schutz gewährt, den es, wie das 20. Jahrhundert und der nationalsozialistische Vernichtungswahn zeigte, dringend benötigt.
Wenn aus Empathie für den unter dauerndem Druck stehenden jüdischen Staat kopflose Identifikation wird, kann es für die Jüdinnen und Juden hierzulande unheimlich werden. Wenn sich aber Menschen für einen fairen Umgang mit Israel einsetzen und den aggressiven Antizionismus von BDS und Co. ablehnen, der nichts anderes als »Kauft nicht bei Juden« in hipper Klamotte ist, handelt es sich nicht um Philosemitismus, sondern um Zivilcourage.