Das neue Album von King Krule verursacht Gänsehaut

British Angst

Die Intensität der Emotionen lässt einem die Nackenhaare zu Berge stehen: Archy Marshall aka King Krule ver­wandelt auf seinem neuen Album »The Ooz« einen von Depression und Einsamkeit geprägten Südlondoner Alltag in düsteren musikalischen Horror.

King Krule, das bin nicht ich. Das ist Superheldenscheiß: Ich steige in ein Kostüm und schreie in ein Mikrophon«, hat Archy Marshall mal gesagt. Damals, 2013, war Marshall 19 Jahre alt. Er hatte gerade sein Debütalbum »6 Feet Beneath the Moon« veröffentlicht und die daraus hervorquellende Musik war höchst ungewöhnlich. Jetzt erscheint das zweite Album von King Krule, »The Ooz«. Darauf spricht Marshall ständig darüber, zu sinken oder schließlich ganz unterzugehen. Doch worin? In seiner eigenen Gedankenwelt, in der Londoner Gosse, in der Themse oder in irgendeinem Schlammloch?

Rückblende: 2013 lebte ein bubenhafter Teenager in Südlondon zwischen Betonbauten, die riesengroß, ziemlich grau und ziemlich bedrohlich waren, und wirkte irgendwie verloren. Rote Haare hatte er, Sommersprossen und etwas hervorstehende Lippen, die für die »Ous« und »Uous« seines britischen Akzents wie gemacht schienen. Dann begann er zu singen, und wenn Gesang Beton sprengen könnte, dann wäre Archy Marshall der Sprengmeister unter den jungen Sängern. Seine, milde gesagt, kräftige Stimme scheint so gar nicht zu der schmächtigen Person mit der leicht gebückten Haltung zu passen. Aus seiner Kehle dringt ein tiefes Röhren, es ist ein Reibeisenbass, der dennoch messerscharf klingen kann. Sein Gesang zeugt von Schmerz, Trauer, Resignation, Wahn, Verwirrung, Wut, Einsamkeit. Damals, als sein Debütalbum erschien, beschrieb King Krule Emotionen, die dem Zuhörer wehtaten, ihm selbst vermutlich aber noch viel mehr. Vor allem transportierte er die Tristesse der Londoner Arbeiterbezirke so gut wie kein anderer. Auch er lebte im benachteiligten Bezirk East Dulwich, mittlerweile gehört er zu den größten Stimmen Großbritanniens.

Musikalisch war Marshall schon immer. Er kann auf Computern Sounds programmieren, Saxophon spielen und brauchbare Klänge auf dem Klavier erzeugen. Seit er acht Jahre alt ist, spielt er Gitarre, zuerst Nummern von Led Zeppelin, den White Stripes und den Foo Fighters. Mit 16 nannte er sich Zoo Kid und lud ei­gene Tracks im Internet hoch. Dort entdeckte ihn das Online-Portal Pitchfork, das es immer wieder irgendwie schafft, neue Musik aus dem Internet hervorzukramen und sie aller Welt als den heißen Scheiß zu präsentieren. Beispielsweise die von 16jährigen britischen Rotschöpfen.

Dann begann der Hype, schließlich folgte sein Album. Zwischendurch nannte er sich Edgar the Beatmaker und DJ JD Sports, gründete mit Freunden die Band Sub Luna City und veröffentlichte skizzenhaft zusammengesetzte Sample-Beats, über die er dann viel lieber rappte, als zu singen. Marshall ist ein großer HipHop-Fan und hat den Sound von verrückt frickelnden Produzenten wie J Dilla aufgesogen, was man auch auf »6 Feet Beneath the Moon« heraushört. Weitere Einflüsse sind Jazz, eine Art urbaner Folk, Post-Punk und britische Rave-Errungenschaften wie Dubstep, die sich zu einer emotionalen Mixtur verbinden.

Vor zwei Jahren legte Marshall den Namen King Krule wieder ab, um sich als ernsthafter Künstler neu zu erfinden. Sein zweites Album erschien unter seinem bürgerlichen Namen zusammen mit einem Gedichtband und einem Kurzfilm. Auch hier war die Stimmung dunkel, aber die Musik verpuffte neben dem ganzen Drumherum. Marshall versteckte sich nicht hinter einem Alter Ego, sondern hinter überforderndem Output.

»Viele würden sagen, ich sei total emotionslos, dabei sieht es in mir drinnen ganz anders aus«, hat Archy Marshall mal gesagt. Er wirkt unbeteiligt, wenn man ihn sprechen hört. Irgendwie gleichgültig, etwas betreten, vielleicht auch bekifft. Manchmal grinst er kurz, sonst ändert sich seine Mimik kaum. Deswegen hat King Krule nur eine Superkraft: verbor­gene Emotionen in der Musik freizusetzen. Auf »The Ooz« gelingt das ­erneut. Es gibt kein Versteckspiel mehr.

Die Geschichten, die Marshall als King Krule erzählt und die sich fast ausschließlich mit seinem Inneren beschäftigen, spielen zumeist in der Nacht. Mal scheint der Mond, mal ist es stockdunkel. Mal ist er auf einem Bahnhof, mal komatös berauscht im Nirvana. Doch ein Motiv durchzieht all diese Szenarien: King Krule hat Angst. Vor der Einsamkeit zum Beispiel und vor dem Verlassenwerden. »The Locomotive« klingt wie eine als Thriller verpackte Panik­attacke. King Krule ist gefangen, der Zug, der ihn nach Hause bringen soll, kommt nicht. Etwas scheint ihn innerlich zu zerreißen. Er schreit schmerzverzerrt, dann ist er wieder ganz ruhig. Die Gitarrenakkorde wippen wie im Delirium hin und her, wechseln zwischen laut und leise. Die Drums ruckeln bedrohlich dazwischen. Von lustiger HipHop-Kopfnickerei ist hier nichts mehr zu spüren.

Auf »A Slide In (New Drugs)« wabert seine Stimme nur noch im Äther umher und ist kaum mehr zu verstehen. Dazwischen erklingen Sig­nale aus dem Jenseits, die sich zwischen den Gitarren hervorkämpfen. »My skin is bleached/My hair is long/I have no teeth/I’ve never done/My gums are ruined/I’m bleeding all the time«, singt er und scheint einen elendigen Horrortrip zu haben.

Archy Marshall versinkt als King Krule in Düsternis, weil Beziehungen scheitern und Liebe oft endlich ist. Seine Songs suhlen sich in den dreckigsten Ecken der Londoner Gosse. Auf »The Ooz« schafft Marshall es, ganz alltägliche menschliche Probleme
und Ängste so darzustellen, wie sie sich in den schlimmsten Momenten auch tatsächlich anfühlen: wie der ärgste Horror.

Doch warum die Selbstzerstörung und woher kommt die Angst? All die auf »The Ooz« beschriebenen Erfahrungen könnten die Reaktion auf eine gescheitert Liebesbeziehungen sein. Da ist man ziemlich erleichtert, denn dieses Problem kennt jeder. King Krule allerdings schafft es, Emotionen derart zu übersteigern, dass man es mit der Angst zu tun kriegt. Wenn er auf »Slush ­Puppy« plötzlich mit Falsettstimme singt, stellen sich einem die Nackenhaare auf, obwohl er doch ständig »Don’t be scared« murmelt. Es klingt entmenschlicht. Dazu zischt und surrt es auf den Songs und erst auf den zweiten Blick merkt man, dass »The Ooz« auch helle Momente hat. Irgendwann geht die Sonne auf und die nächtliche Paranoia ist vorüber. Dann erklingen freundliche ­Saxophontöne, Jazzpianopassagen, Hip­Hop-Grooves und Synth-Melo­dien. Bevor es wieder dunkel wird, stimmt er schnell noch eine romantische Ballade voll jugendlicher Flausen an.

Archy Marshall versinkt als King Krule in Düsternis, weil Beziehungen scheitern und Liebe oft endlich ist. Seine Songs suhlen sich in den dreckigsten Ecken der Londoner Gosse. Auf »The Ooz« schafft Marshall es, ganz alltägliche menschliche Probleme und Ängste so darzustellen, wie sie sich in den schlimmsten Momenten auch tatsächlich anfühlen: wie der ärgste Horror. Auf so zerstörerische Weise feinfühlig war lange kein Album mehr.


King Krule: The Ooz (Xl/Beggars Group)