Paulette Gensler findet die #meetoo-Kampagne verharmlosend

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Die »Me too«-Kampagne verharmlost Vergewaltigungen, weil sie sie in einer nivellierenden Masse von unterschiedlichsten, wenn auch ­insgesamt unappetitlichen Vorfällen untergehen lässt.

Der Weinstein-Skandal beschert dem Netzfeminismus derzeit ein enormes Comeback. Die Schauspielerin Alyssa Milano nutzte die Konjunktur und twitterte: »Wenn du sexuell ­belästigt oder angegriffen wurdest, schreibe ›Me too‹ als Antwort auf diesen Tweet.« Zwölf Millionen Mal wurde das Hashtag in den ersten 24 Stunden auf Facebook gepostet, in zig Ländern wurde es aufgegriffen oder durch ein landessprachliches ersetzt. Von vornherein ging es in erster Linie um die bloße Masse, denn nur diese könne, Milano zufolge, »die Größe des Problems« aufzeigen. Aber dieses Problem ist so konkret nicht. Laut Milano besteht es in der »kontinuierlichen Objektivierung, Erniedrigung und sexuellen Belästigung von Frauen«. Ausgehend von einer Reihe sexueller Nötigungen und Vergewaltigungen soll hier das ganze Feld des Sexismus bis hin zu Blicken und Sprüchen abgedeckt werden. Die Masse der Postings kann natürlich niemand wirklich lesen, weshalb sich die Aufmerksamkeit in erster Linie auf Prominente richtet, ob nun als (vermeintliche) Opfer oder Täter. Das produziert gleich reihenweise lukrative »Sex-Skandale«. In Frankreich ging die Journalistin Sandra Muller konsequenterweise gleich einen Schritt weiter, und forderte unter #balancetonporc expli­zit zur Denunziation »der Schweine« auf.

Die unter #metoo geschilderten Fälle sind, gelinde gesagt, überaus unterschiedlicher Natur. Sie reichen von Gruppenvergewaltigung und Kindesmissbrauch über Körperverletzung ohne jeglichen sexuellen Kontext bis zur Aufforderung eines Chefs an seine Sekretärin, zwei Dildos für ihn zu besorgen; #metoo listet die für den britischen Verteidigungsminister karrierebeendende Hand auf dem Knie einer Journalistin vor 15 Jahren, ein Nacktcasting neben dünneren Kolleginnen, anzügliche Sprüche oder Blicke, die sich »merkwürdig angefühlt« haben – alles unterschiedslos unter dem Motto »Me too« zusammengefasst. Die berichteten Vorfälle sind in ihrer Mehrheit zumindest moralisch unappetitlich bis widerlich. Viel wichtiger aber ist: Ein nicht kleiner Teil ist justiziabel, der Rest hingegen nicht. Und genau diesen Unterschied zu verwischen, ist ein sehr zweifelhaftes Verdienst jenes Feminismus, der in der Kampagne nun noch einmal deutlichen Ausdruck erhält.

Der für Selbsthilfegruppen aus guten Gründen übliche Verzicht auf Be- oder gar Verurteilung von Berichten wird verallgemeinert; er ist das Wesen dieser Kampagne. In deren Konsequenz liegt, dass man qua Geschlechtszugehörigkeit dazu verdonnert wird, #metoo und dem Netzfeminismus zuzustimmen, da man sonst keine richtige Frau sei, also zu den »Andersfrauen« zähle, die Paula Irmschler im Neuen Deutschland denunzierte.

Diese seien Frauen, die nur schreiben, was sie schreiben, um sich Männern anzubiedern. Eine Anwendung der­selben Logik auf das Kleidungsverhalten von Frauen dürfte Irmschler hingegen aus guten Gründen nicht besonders zusagen. Dass jene angeblich mit »einem Männlichkeitskomplex« behafteten Weibsbilder nicht nur Geistesschlampen sein könnten, die mit jeder Herrenrunde ins journalistische Bett hüpfen, sondern #metoo eventuell deshalb kritisieren, weil sie wissen oder ahnen, dass diese Kampagne ihren Interessen direkt zuwiderläuft, das kann und darf für die Irmschlers nicht sein.

Dabei gab es durchaus bereits Online-Kampagnen, die aufklärerisch genannt zu werden verdienen. In der  Kampagne #ichhabnichtangezeigt wurden Betroffene dezidiert gefragt, warum sie eine Vergewaltigung nicht angezeigt haben; und sie wurden um eine Antwort gebeten à la »#ichhabnichtangezeigt, weil … «, um die Motive zu erfahren. Das war Aufklärungsarbeit, die nichts mit Täterjagd, Empörungsakkumulation oder Gesinnungsäußerungen zu tun hatte. Dagegen stellt #metoo eben eine bloß quantitative Verwertung der Einträge dar, die, weil die verschiedensten Handlungen unter ein und demselben Hashtag verschlagwortet werden, Sprüche stark auf- und Vergewaltigungen ebenso stark abwertet, letztlich also die Tatbestände nivelliert. Studien zufolge haben 13 Prozent aller Frauen in Deutschland eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung erlitten – das ist eine derartige Menge, dass man sie wahrlich nicht noch durch Aufweichung »erweitern« müsste.

Diese Aufweichung jedoch hat Methode, fügt sie sich doch bestens zu den unzähligen Vergewaltigungsmythen, die sich selbst in den Anklagestatistiken immer noch widerspiegeln. Es gibt aber auch feminis­tische Vergewaltigungsmythen – die in der Regel Mythen über die Justiz sind. Das Argument ist in aller Regel, dass eine Anzeige nichts bringe und die Mehrzahl der Täter nicht angeklagt oder verurteilt werde. Bis vor ein paar Jahren konnte man sagen: Um die 8 000 erst einmal mutmaßliche Vergewaltigungen wurden in Deutschland pro Jahr angezeigt, 1 500 Anklagen erhoben, von denen um die 1 000 mit einer Verurteilung endeten. Das ist eine Anklagequote von knapp 20 Prozent; 12,5 Prozent der Anzeigen führten zu einer Verurteilung, 66 Prozent der Angeklagten wurden verurteilt. Das klingt schrecklich gering – aber auch die allgemeine Verurteilungsrate bei Straftaten relativ zur Zahl der Anzeigen bei der Polizei lag zur selben Zeit bei unter 15 Prozent, womit die Vergewaltigung schlicht im Durchschnitt liegt. Nun ist das wahrlich kein Grund zur Freude – aber es wirft doch ein etwas ­anders Licht auf das Problem.

Was jedoch auffällt, ist die Anzeigequote bei Sexualstraftaten, die sich naturgemäß auf Schätzungen stützt. Eine Studie des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2004 kommt zu dem Schluss, dass nur fünf bis acht Prozent der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zur Anzeige gebracht wurden. Ferner ergab die Studie, dass sexuelle Straftaten von der Mehrheit der Betroffenen zwar als Gewalt, aber nur von der Hälfte (beziehungsweise gar nur einem Drittel, sofern die Tat vom Partner begangen wurde) als Vergehen beziehungsweise Verbrechen erkannt wurden. Nicht zuletzt die Rhetorik, die viele Strömungen des Feminismus pflegen, trägt dazu bei, den Unterschied zwischen Gewalt und Verbrechen zu verwischen. So kann man selbst von einer Tagesthemen-Kommentatorin hören: »Sexuelle Gewalt ist ein Verbrechen.« Und eben dies stimmt nicht.

»Sexuelle Gewalt« ist ein bestenfalls deskriptiver Begriff, unter den manches Mal verschiedene konkrete Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung subsumiert werden, der aber andererseits als Synonym für »Sexismus« (ohne Zwangsheirat, Ehrenmord oder Kopftuchpflicht, versteht sich) oder gleich »Rape Culture« herangezogen wird.

Ein Vergehen beziehungsweise Verbrechen als ebensolches zu erkennen, ist jedoch eine wesentliche Voraussetzung, um es zur Anzeige zu bringen. Die niedrige Anzeigerate wird gern damit begründet, dass eine Anzeige nicht lohne, weil die meisten Verfahren eingestellt werden – was so abstrakt stimmt, aber eben nur so abstrakt. Katja Goedelts Studie »Vergewaltigung und sexuelle Nötigung. Untersuchung der Strafverfahrenswirklichkeit«, in der sie Fälle von angezeigter sexueller Nötigung und Vergewaltigung insbesondere mit Blick auf die Einstellungsgründe untersuchte, kam zu diesem Ergebnis: »Die meisten Fälle (68,8 Prozent) wurden durch die Staatsanwaltschaft wegen fehlenden Tatverdachts gem. § 170 Abs. 2 StPO1 eingestellt.« Und genau hier wird es einigermaßen spannend, denn keineswegs erfolgten diese Einstellungen nur aus Bösartigkeit oder wegen notorischer Zweifel der Staatsanwaltschaft. Vielmehr gingen über 40 Prozent dieser Einstellungen darauf zurück, dass das Opfer entweder keine Aussagen zum Tathergang machte (22 Prozent) oder aber die Tat sogar bestritt und seine Aussage revidierte (19 Prozent); dann erst folgt als Einstellungsgrund mangelnde Glaubwürdigkeit, widersprechende Zeugenaussagen et cetera. In »nur« 16 Prozent der Einstellungen wurde als Grund das Fehlen von Nötigungsmitteln genannt. Das heißt: 41 Prozent aller eingestellten Fälle wurden aufgrund mangelnder Mitwirkung oder gar aufgrund Gegenwirkung der mutmaßlich Betroffenen eingestellt, während Fälle, auf die sich die Nein-heißt-nein-Reform bezieht, nur einen deutlich geringeren Teil darstellen.

Anstatt das zu thematisieren, malt man ein schreckenerregendes Bild der Justiz und bewirbt das Konzept der Definitionsmacht, laut einer Beraterin bei Wildwasser (ein Verein gegen sexuelle Gewalt an Frauen, der seit 1983 in Berlin besteht; gleich­namige Einrichtungen gibt es auch in vielen anderen deutschen Städten, Anm. d. Red.), »ein Werkzeug aus der feministischen Trickkiste«, um, wie jene Beraterin, ausführlich und ziemlich explizit von einer Anzeige abzuraten. Im Magazin Outside the Box behauptet man aus derselben Motivation heraus, eine Vergewaltigung sei immer noch eine »strafbare Handlung gegen die Sittlichkeit« und nicht gegen die Frau, obwohl jenes Rechtsgut bereits 1973 durch die »sexuelle Selbstbestimmung« ersetzt wurde. Die Unterstützerin­nengruppe D.E.F.M.A (DIY, Emanzipatorisch, Feministisch, Militant, ­Autonom) empfiehlt für die Kommunikation prinzipiell verschlüsselte ­E-Mails. Da es sich nämlich bei der »Vergewaltigung« um ein Offizial­delikt handelt, wäre der sich anscheinend brennend für radikal-­feministische E-Mail-Inhalte interessierende Staat zu einer Anzeige ­verpflichtet.

Dagegen helfe nur Verschlüsselung. Das heißt: Die vermeintliche Straftat soll aktiv vor dem Staat verborgen werden. Und in der vom Unrast-Verlag herausgebrachten Fibel »Antisexismus reloaded« werden dafür die strenggeheimen Szenestrukturen vorgeschoben, die, »so schlimm sexualisierte Gewalt auch ist«, mit einer Anzeige nicht ge­fährdet werden dürften. In der Taz vom 3. November 2017 pädagogisierte hingegen Melanie Brazzell gegen den »Strafrechtsfeminismus«, um sofort dringlich davon abzuraten, die Polizei zu rufen, wenn man hört, dass die Nachbarin von ihrem Lebenspartner verprügelt wird. Stattdessen schlägt sie vor, »Beziehungen aufzubauen«. Gelingt das nicht, dann bleibt wohl nur, die Schmerzensschreie von nebenan einfach einmal auszuhalten, sofern man Brazells Aufruf zur vorsätzlichen Unterlassung von Hilfeleistung zu folgen gedenkt.

Der Netzfeminismus in seiner jetzigen Form fällt den Opfern von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung wieder einmal in den Rücken. Im Falle von #metoo waren zwar (in der Regel nicht angezeigte) Straftaten der Anlass, der aber von der Art und Weise, wie die Kampagne geführt wird, letztlich völlig verharmlost wird. Was aber ist das für ein Feminismus, der weder willens ist, entsprechende Fälle vor Gericht zu bringen – da man dort selbst­verständlich dazu angehalten wäre, zwischen Vorkommnissen zu unterscheiden, die aus guten Gründen im Recht begrifflich geschieden sind –, noch überhaupt erwägt, die Unterschiede in der juristischen Bewertung von Vergewaltigung in verschiedenen Ländern zu reflektieren?