Projektionen und Relativierungen prägen die »Me Too«-Debatte

Vernunft und Strohfrauen

Viele Kritiker und Kritikerinnen der »Me Too«-Debatte führen Kämpfe gegen Pappkameraden. Die vermeintlich Vernünftigeren gönnen sich dabei ein ordentliches Maß an Projektionen, Verleumdungen und Relativierungen.

Es muss mal wieder mutig in die Bresche gesprungen werden. Diesmal gegen eine »Kampagne« namens #metoo, die von einer ominösen Gruppe mit niedrigen Beweggründen angeführt wird: dem »Netzfeminismus«. Die kühnen Kritiker – man findet sie in Feuilletons, auf Twitter oder neben sich in der Bar – sind sich nicht zu schade, Frauen, die von Belästigung und sexueller Gewalt berichten, anzudichten, sie wollten sich wichtig machen, berühmt werden oder gar Geld damit verdienen.
Paulette Gensler schrieb vergangene Woche in verschwörungstheoretischer Manier in dieser Zeitung: »Der Weinstein-Skandal beschert dem Netzfeminismus derzeit ein enormes Comeback.« Neben der Frage, woher »der Netzfeminismus« zurückgekommen sei, bleibt wie immer offen, was er überhaupt sein soll.

 

Der »Netzfeminismus«: Eine Projektion

Die Annahme, der egoistische »Netzfeminismus« profitiere von den Äußerungen von Betroffenen – als könnten es nicht alle Menschen sein –, findet sich auch bei Tamara Wernli (»Tichys Einblick«), die noch weiter geht: »Wenn nun aber Fälle von anzüglichen Sprüchen oder Knietätscheln aufgerollt werden, die Jahrzehnte zurückliegen, frage ich mich in aller Sachlichkeit: Was soll das bezwecken?« Cui bono? – Klar: »Netzaktivisten«, die »sich insgeheim die Hände« reiben.
Der Zeit-Kolumnist Thomas Fischer weiß dazu: »Wer sich ›Opfer‹ nennen darf, hat gewonnen«, und spricht von einem »Glück der Enthüllung«, während Adam Soboczynski, seines Zeichens Ressortleiter des Feuilletons bei der Zeit, Vergewaltigungsfälle würden dazu genutzt, »kleine Alltagsrechnungen« zu begleichen. Und Peter Hitchens (Daily Mail) stellt bei #metoo sogar Motive ähnlich denen militanter Islamisten fest.

Im Zuge der Debatte fahren die Kommentatoren alles auf, was ihnen zum Thema »Netzfeminismus« an Projektionsmüll einfällt. Wenn der Begriff Frauen bezeichnen soll, die sich persönlich und politisch im Internet äußern, wäre Alyssa Milano keine erfolgreiche Schauspielerin, sondern eine postmoderne, queere »Netzfeministin«, die jetzt richtig absahnt. So greift man als vernünftiger Kritiker auch zu sonst verteufelten Mitteln – an anderer Stelle würde man solche Reaktionen als Beißreflexe bezeichnen. Plötzlich ist es vorbei mit Differenzierung, Vorsicht vor Vorverurteilung, der Ruf nach Sachlichkeit gilt nur nach außen. Maskulisten, alltägliche Macker, Konservative und Linke diskutieren darüber, was man denn noch dürfe, ob es früher nicht einfacher gewesen sei und ob man jetzt für jede Annäherung einen Vertrag brauche – aber die, die dramatisieren, sind natürlich die Frauen.

Keine Geschichte macht die andere weniger wert oder wertvoller. Sie können nebeneinander stehen, was nicht bedeutet, dass sie gleich schlimm sind oder die gleichen Konsequenzen haben sollen.

»Ein nicht kleiner Teil ist justiziabel, der Rest hingegen nicht«, weiß Gensler empirisch über die berichteten Vorfälle – obwohl »die Masse der Postings (…) natürlich niemand wirklich lesen« könne – und wirft der »Kampagne« vor, »diesen Unterschied zu verwischen«. Diesen Unterschied kennen Frauen sehr genau, wird er ihnen doch ständig dick aufs Brot geschmiert, aber sie wissen auch von den Gemeinsamkeiten: dem Aufwachsen und Leben in einer misogynen Gesellschaft, in der sich Männer immer wieder mittelbar oder unmittelbar Zugriff auf ihre Körper verschaffen wollen. Thomas Fischer fragt ernsthaft, »warum es schlimmer ist, an den Genitalien berührt zu werden, als mit aller Kraft ins Gesicht oder mit Gegenständen auf den Körper geschlagen zu werden«, obwohl das niemand je behauptet hat. Eine Debatte ist nicht obsolet, nur weil sie (auch!) von Fällen erzählt, die nicht justiziabel sind. Es ist, als beschwere sich ein Kind darüber, dass es gemobbt und beleidigt wird – und Lehrer sagen, dass es damit Straftaten wie Mord relativiere. Aber es sind die Lehrer, die das, was dem Kind widerfährt, relativieren. Frauen sind übrigens keine Kinder, dementsprechend sind sie selbst in der Lage, das ihnen Angetane einzuordnen. Und das tun sie mittels #metoo. Alyssa Milano hat begriffen, dass es um ein größeres Problem geht, um gesellschaftliche Macht und Misogynie – und fordert Menschen dazu auf, sichtbar zu machen, wie groß dieses Problem ist.

Viele Frauen können sogar von justiziablen und nicht justiziablen Erfahrungen berichten. Viele geben an, dass #metoo sie ermutigt habe, dass sie sich nicht mehr als passive Opfer fühlen, dass sie gemeinsam gegen Sexismus kämpfen wollen. Keine Geschichte macht die andere weniger wert oder wertvoller. Sie können nebeneinander stehen, was nicht bedeutet, dass sie gleich schlimm sind oder die gleichen Konsequenzen haben sollen. Keine Frau hat übrigens gefordert, dass ein Angrapschen im Club zur Verhaftung führen soll. Doch es soll Konsequenzen haben, zum Beispiel: sensibel zu sein für gefährliche Situationen, dem Kumpel zu sagen, dass er Frauen nicht belästigen soll, oder sich zu vergegenwärtigen, wie sich Betroffene in Männergruppen fühlen, in denen Vergewaltigungswitze gemacht werden. Es geht darum, ein besseres gesellschaftliches Klima zu schaffen, es geht um Folgen, es geht um Bewusstwerdung – und es geht in einzelnen Fällen auch darum, justiziable Taten zur Anzeige zu bringen.

 

Niemand will »Täter jagen« oder »den Flirt« kaputt machen

Die Opferkonkurrenz, von der so viel gesprochen wird, wird von Kritikern der Debatte imaginiert. Gensler weist richtig darauf hin, dass es feministische Gruppen gibt, die von Anzeigen abraten, was in der Tat problematisch ist. Allerdings bleibt vieles unerwähnt: all die Gruppen, zum Beispiel Awareness-Teams, die Unterstützung bei Anzeigen anbieten, oder all die unter #metoo gesammelten Aufrufe, sich auch juristisch zu wehren, und der Einsatz der – ja, auch im Netz agierenden – Feministinnen im vergangenen Jahr für die Verschärfung des Sexualstrafrechtes.

Die wenigsten haben dabei eine »Täterjagd« (Gensler) im Sinn, oft werden die Täter nicht mal mit Namen genannt. Es geht um Vertreter und Nutznießer von Machtstrukturen, und vielen Frauen ist sehr wohl bewusst, dass die Protagonisten austauschbar sind. Frauen in unzähligen Artikeln vorzuwerfen, dass sie den Kontext ihrer Erfahrungen nicht mitdenken könnten, soll sie klein halten. Zu fragen, was man denn noch dürfe, verharmlost Dinge, die Frauen benennen. Ständig darauf hinzuweisen, dass es doch um Vergewaltigungen gehen sollte – was im Übrigen nicht stimmt, die Debatte drehte sich von Anfang an auch um sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch –, ist Abwehr. Denn wenn einem gewahr wird, dass der Grapscher und der Vergewaltiger etwas gemeinsam haben, dann könnte man selbst zumindest mitschuldig sein. Weil man weggesehen hat. Oder weil man selbst übergriffig war.

Sexismus wird lieber schnell als »unappetitlich« (Gensler) oder »Geschmacklosigkeit« (Soboczynski) verniedlicht. Der Netzfeminismuskritiker mag nur über Justiziables sprechen, weil das bedeutet, dass man mit allem anderen weiter durchkommen kann.

Doch die unter #metoo gesammelten Erfahrungen sind eben nicht trennbar. Justiziablen Verbrechen geht oft nichtjustiziable Gewalt voraus, beide haben miteinander zu tun. Eine blöde Anmache, ein Betatschen kann eine Bedrohungslage erzeugen, die nicht immer dazu führen muss, dass man vergewaltigt wird. Aber sie kann. Man weiß nicht, wo der Täter seine Grenzen ziehen wird. Manchmal hat man nur Glück. Die Debatte berichtet von diesen Bedrohungslagen. Es geht nicht um »den Flirt« (Christina Rietz), nicht um »Gesinnungsäußerungen« (Gensler), nicht um das »über die Stränge schlagen« (Thea Dorn), »Dirty Talk«, »Sexkontakte, »Mückenfurz« (!) (Wernli), »einen miesen Spruch (…), auf den zu antworten ihr nichts Passendes einfiel« (Jan Feddersen), und sicher nicht um ein »Entlarven« der »jüdischen Hollywood-Mafia« (Fischer). Es geht um all die kleinen und größeren Momente, in denen Frauen deutlich gemacht wurde, dass man sie beherrschen will.

Zehntausende Frauen sprechen über etwas, das ihnen wichtig ist – und Kritiker schreiben: »Der Netzfeminismus in seiner jetzigen Form fällt den Opfern von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung wieder einmal in den Rücken« (Gensler), oder: »Wem die Bekämpfung von sexueller Gewalt tatsächlich ein Anliegen ist, der dürfte in manchen Auswüchsen der »Me Too«-Debatte ein echtes Ärgernis erblicken« (Soboczynski). Dabei sind es genau die Opfer und die Bekämpferinnen von sexueller Gewalt, die sich gerade äußern. Und die, die mit ihnen solidarisch sind. Da sind echte Frauen mit ihren echten Anliegen und es reicht immer noch nicht. Die Kritik entspringt zu oft aus der bequemen Außenseiterrolle. Jahrhundertelang hat man Frauen den Kampf um ihre Rechte überlassen, Sexismus zum Nebenwiderspruch erklärt und sich zurückgelehnt. Doch dann, wenn Frauen zu stark und zu laut werden, erklärt man Zehntausende oder mehr von ihnen zu »Netzfeministinnen«, die eine »Kampagne« machten und von einer »Konjunktur« für ein »Comeback« profitierten.

Im Feminismus gibt es Tendenzen, die zu kritisieren sind. Das sind Diskurse, die der Feminismus braucht und führt. Menschen, die nur dann das Wort »Feminismus« in den Mund nehmen, wenn es gilt, ihn als solchen zu verunglimpfen, oder die fragen, warum sich Feministinnen nie um dies oder jenes scherten, braucht der Feminismus dagegen nicht.
Was Feministinnen brauchen, ist Energie und Zeit, die jedoch ständig von bremsenden, distanzierten Kritikern abgegriffen wird, die Frauen mit Pappkameraden und Unterstellungen aufhalten und zum Stillsein verdonnern wollen.