»Der Riss«: Eine Graphic Novel über die Flüchtlingskrise

Bilder der Flucht

Zwei spanische Journalisten haben eine Fotoreportage in Form einer Graphic Novel verfasst: »Der Riss« erzählt von der Flüchtlingskrise an den Rändern Europas und lässt Flüchtende, Grenzsoldaten und Kommunalpolitiker zu Wort kommen.

Aus dem Fenster des Hubschraubers finnischer Grenzschützer sehen der Fotograf Carlos Spottorno und der Journalist Guillermo Abril hinunter auf das zugefrorene Meer. Spottorno schießt Fotos von den Rissen in der Eisdecke der Ostsee und versinn­bildlicht die Risse Europas. Zwischen Finnland und Russland verläuft die längste Außengrenze der EU. Für die beiden spanischen Reporter ist es die letzte Station einer Reise, die sie zwischen 2013 und 2016 im Auftrag des spanischen Magazins El País Semanal zu verschiedenen Grenzorten unternommen haben. Die Recherche führte sie von der spanischen Enklave Melilla in Nordafrika bis zum nördlich des Polarkreises gelegenen finnischen Ivalo. Aus den vielen unveröffentlichten Aufnahmen wählten die Journalisten Bilder aus, um eine ­Fotoreportage im Stil einer Graphic Novel zu gestalten. Die Fotos wurden nachkoloriert und mit Texten von Guillermo Abril ergänzt, die den Kontext erläutern und historische Zusammenhänge herstellen. »Der Riss« ist ein Comic, der sich Großes vor­genommen hat. Mit pathetischen Bildern wird eingangs die Geburtsstunde des heutigen Europas illustriert. Gezeigt werden alliierte Truppen nach der Befreiung von Paris vor dem Arc de Triomphe. Winston Churchill verkündet seine Vision eines geeinten Europa. Dann folgen der Euro, die Wirtschaftskrise, Massen­demonstrationen in Spanien, der »arabische Frühling« und die Flucht vieler Menschen nach Europa.

 

Das »Grenzspektakel« in den Medien

Mit der Ankunft der Flüchtlinge sind die europäischen Außengrenzen in den Blick der Öffentlichkeit geraten. Die Undurchlässigkeit der Grenzen, das Sterben auf dem Mittelmeer und das Wohlstandsgefälle beschäftigen auch die beiden Journalisten. In der spanischen Enklave Melilla besuchen sie einen mit EU-Geldern geförderten Golfplatz, der sich in ­direkter Nachbarschaft zu einer überfüllten Zeltstadt für Flüchtlinge befindet. Sie lassen sich vor Ort die Maßnahmen zur Sicherung der griechisch-bulgarischen Grenze erläutern und gehen von Lampedusa aus mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex auf die Suche nach Booten mit dem Ziel Europa. Die Bilder sind bekannt: überfüllte Boote, Tränen des Glücks auf den Gesichtern der Geretteten, Menschen, die nach ihrer Ankunft in Europa hinter Zäunen und Absperrungen darauf warten, dass die Reise weitergeht. Der Schweizer Politologe und Künstler Charles ­Heller sprach in einem Interview angesichts der Bilder der Migration in den Medien von einem »Grenzspektakel«: »Die Repräsentation der ­Migration auf dem Seeweg ist unfassbar stereotyp. Besonders seit dem Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise im Mittelmeerraum sind die internationalen Medien voller Bilder überfüllter Boote, die die Grenzen der EU überqueren, Bilder, die einander über weite Strecken sehr ­ähneln.«

Das Interview ist in dem Buch »Lampedusa. Bildgeschichten vom Rande Europas« zu finden, dessen Autoren nach neuen visuellen Formen für die Darstellung von Migration suchen, zusammengetragen von der Migrant Image Research Group. ­Migranten würden meist als Bedrohung oder als Opfer dargestellt, so die Kritik. Mal sollten die Fotos die Behauptung vom »vollen Boot« illustrieren, mal werde durch die Darstellung von Flüchtlingen hinter Ab­sperrungen Mitleid evoziert.

 

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Bild:
Avant-Verlag

 

Auch »Der Riss« nutzt diese Art von Bildern: Überfüllte Boote, Tränen, Zäune sollen das Anliegen der Autoren verdeutlichen. Mit den Bildern von Menschenströmen, die Richtung Mitteleuropa wandern, von Massen, die hinter verschlossenen Türen auf die Weiterreise warten, und von überfüllten Booten, bedienen die Reporter auch eine Bildmetaphorik, die Ängste vor den Flüchtlingen schürt. Und dies, obwohl die beiden immer wieder ihre Empathie herausstellen. So bleibt ihr Buch ambivalent. Sie wollen Europa für das Schicksal der Flüchtlinge sensibilisieren, nutzen dafür jedoch Bilder, die auch Ängste schüren können, bis es gegen Ende ihres Albums völlig unklar wird: »Bei unserer Reise entlang der Außengrenze – des großen Risses – haben wir Dutzende kleinere Risse im europäischen Boden gesehen. Die unzähligen Geflüchteten, die Kerben, die der Nationalismus, die Grenzschließungen hinterlassen, der Populismus und die Islamfeindlichkeit, die Krise, die Norden und Süden entzweit hat, die Löcher in Syrien, Irak und Libyen.

 

»Große und kleinere Risse«

»Es gibt die großen Risse und kleinere Risse. Alle sind miteinander verbunden«, sagt Carlos. »Hält man sie nicht auf, kollabiert die Struktur.« Sollen nun die Flüchtlinge aufgehalten werden, damit Europa nicht kollabiert, wie es ein finnischer Grenzschützer fordert? Oder nur ­Islamisten (der letzte Teil des Buches entstand unter dem Eindruck des ­Attentats im Pariser Club Bataclan)? Oder sind es die Grenzschließungen, die das europäische Selbstverständnis erschüttern?

Selbstverständlich gehören diese Themen zusammen, doch die Zusammenhänge zwischen Rassismus und der Krim-Krise oder der sogenannten Flüchtlings- und der Eurokrise erschließen sich beim ­Lesen nicht. Zwar machen die Autoren deutlich, dass sie nicht für eine weitere Abschottung Europas plädieren, die Spannungen jedoch, die den »Riss« durch Europa treiben, verschwinden hinter den ästhetisierten Bildern von der glatten Oberfläche des Mittelmeers und den schneebedeckten Landschaften Finnlands. Aufschlussreich sind dagegen die Recherchen zur Grenzsicherung. Die beiden Autoren lassen sich durch das Frontex-Hauptquartier in Warschau führen und besuchen den Nato-Stützpunkt in Weißrussland. Die militä­rische Sicherung der Grenzen wirkt in ihrer Alltäglichkeit und Banalität umso bedrohlicher. Auf ähnliche Weise arbeiten die einzigen Seiten des Buches, die ohne Text auskommen, auf denen Artefakte eines Museums auf Lampedusa abgebildet sind, in dem Giacomo Sferlazzo an den Strand gespülte Überreste untergegangener Schiffe ausstellt: Pässe, Medikamente, Spielsachen.

 

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Bild:
Avant-Verlag

 

Obwohl die Autoren mit dem Fotocomic nach neuen Formen der ­Darstellung von Flucht suchen, bleibt die Graphic Novel der Authentizität der Bilder verpflichtet. »Auf keinem Foto wurden Elemente hinzugefügt oder entfernt«, schreiben die Reporter. Die Suche nach möglichst authentischen Bildern der Migration treibt zahlreiche Comiczeichner um. So haben Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer für ihr Album »Liebe deinen Nächsten« (Splitter-Verlag 2017) drei Wochen an Bord des Rettungsschiffs MS Aquarius verbracht, um die Seenotrettung angemessen schildern zu können. Olivier Kugler versucht in seinem Comic »Dem Krieg entronnen« (Edition Moderne 2017) in komplexen Text-Bild-Arrangements den Biographien syrischer Flüchtlinge gerecht zu werden. Dass es gerade das Medium Comic ist, in dem nach neuen Formen des Erzählens gesucht wird, verwundert nicht: Sind doch die Bilder des Comics nicht darauf ausgelegt, Authentizität zu vermitteln, eine einzige Wahrheit abzubilden, sondern zeigen immer schon eine Sichtweise des Zeichners, eine Perspektive auf die Welt. »Die wechselseitige Erhellung von Fotografie und Zeichnung scheint auf der Suche nach neuen Darstellungs­formen ein äußerst produktiver Weg«, schreibt Jan Wenzel einleitend in »Lampedusa. Bildgeschichten vom Rande Europas«. Das Buch enthält neben Gesprächen mit Medienwissenschaftlern, Bildredakteuren, Flüchtlingen und deren Helfern sowie Reflexionen über Bilder der Migration auch gezeichnete Bildgeschichten, die neue Perspektiven für den Umgang mit den massenhaft medial verbreiteten Fotografien der »Flüchtlingskrise« anbieten.

 

Carlos Spottorno/Guillermo Abril: Der Riss. Aus dem Spanischen von André Höchemer. Avant-Verlag, Berlin 2017, 184 Seiten, 32 Euro