04.01.2018
Die extreme Rechte instrumentalisiert das Thema Obdachlosigkeit

Parkbänke für Deutsche

Immer mehr Menschen in Deutschland haben keinen festen Wohnsitz. Der Debatte über die scharfe Konkurrenz um Mietwohnungen und die steigende Straßenobdachlosigkeit will die extreme Rechte eine vorhersehbare Stoßrichtung geben.

Deutschland gehört zu den erfolgreichsten Industrienationen. Das Brutto­inlandsprodukt von 3,13 Billionen Euro, das im vergangenen Jahr erneut um 1,9 Prozent gestiegen ist, ist das viertgrößte der Welt. Vom wachsenden Reichtum profitieren jedoch nicht alle. Immer mehr Menschen reicht ihr Einkommen noch nicht einmal für das Nötigste – zum Beispiel ein Dach über dem Kopf.

Die Zahl der Wohnungslosen ist nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) im vergangenen Jahr erneut angestiegen. 860 000 Menschen sind in Deutschland derzeit ohne Wohnung. Seit 2014 hat sich die Zahl damit um 150 Prozent erhöht, im Vergleich zu 2008 sogar vervierfacht. Als wohnungslos gilt, wer keinen dauerhaften Wohnsitz hat und stattdessen in Unterkünften lebt, in denen der Aufenthalt zeitlich begrenzt ist. Dazu zählen sowohl sogenannte Notunterkünfte, als auch Gemeinschaftsunterkünfte für Flüchtlinge.

Der BAG W zufolge handelt es sich bei 440 000 als wohnungslos geltenden Menschen um Flüchtlinge, die in diesem Jahr zum ersten Mal statistisch ­erfasst werden. Das ist sicher ein Grund für den rasanten Anstieg. Doch auch ohne die Berücksichtigung dieser Menschen ist die Zahl der Wohnungslosen in den vergangenen beiden Jahren um etwa 25 Prozent von 335 000 auf 420 000 gestiegen. Darunter befinden sich mehr als 30 000 Minderjährige. Für die Zukunft prognostiziert die BAG W einen weiteren Anstieg der Wohnungslosigkeit. Bis 2018 erwartet die Wohnungslosenhilfe 1,2 Millionen ­Betroffene. Ebenfalls gewachsen ist die Straßenobdachlosigkeit. So lebten im vergangenen Jahr rund 52 000 Menschen auf der Straße. Seit 2014 ist ihre Zahl damit um ein Drittel gestiegen. Auf der Straße angekommen kann es für viele Betroffene gerade im Winter schnell lebensgefährlich werden. So erfroren seit 1991 in Deutschland mindestens 289 obdachlose Menschen unter Brücken, auf Parkbänken oder in Hauseingängen.

Einen wenigstens ungefähren Eindruck vom Ausmaß der Obdachlosigkeit bietet einzig die Schätzung der BAG W. Offizielle Zahlen staatlicher Behörden zur Wohnungslosigkeit gibt es nicht, weder auf bundes- noch auf Länder­ebene. 2011 habe man mit der Bundesregierung darüber gesprochen, warum es keine offizielle Wohnungslosen­statistik in Deutschland gebe, so Thomas Specht, Geschäftsführer der Wohnungslosenhilfe, in der »Tagesschau«: »Da hieß es: Wenn der Bund die veröffentlicht, dann würden die Leute ja denken, dass der Bund auch dafür zuständig wäre, die Wohnungslosigkeit zu beseitigen«, sagt Specht. Während viele ­Medien die neuen Zahlen zum Anlass nehmen, um über die Situation von Wohnungslosen zu berichten, verhalten sich die Parteien zu diesem Thema ­auffällig schweigsam – alle außer der AfD, die versucht, die Debatte über die wachsende Wohnungslosigkeit rassistisch aufzuladen. »Wegen anhaltender, ungebremster Migration: Zahl der Obdachlosen in Deutschland erreicht nie gekannte Ausmaße«, schreibt etwa die bayerische AfD auf Facebook mit Verweis auf Daten der Wohnungslosenhilfe.

 

Die »Winterhilfe« richtet sich ausschließlich an »unverschuldet in Not Geratene« und nicht an »Menschen, die schlicht nicht arbeiten gehen wollen«. Auch Flüchtlinge, Alkoholiker oder Drogenabhängige werden ausdrücklich von den Spenden ausgenommen.

 

Die Gründe für Obdachlosigkeit: eine verfehlte Wohnungspolitik und unzureichende Armutsbekämpfung«

Tatsächlich liegen die Gründe für den Anstieg der Wohnungslosigkeit jedoch anderswo: »Die Zuwanderung wirkt zwar verstärkend, aber die wesentlichen Ursachen für Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit liegen in einer seit Jahrzehnten verfehlten Wohnungspolitik in Deutschland, in Verbindung mit der unzureichenden Armutsbekämpfung«, sagt etwa Specht. Mehrere Faktoren ­seien nach Einschätzung der Wohnungslosenhilfe für den dramatischen Anstieg verantwortlich. »Das Angebot an bezahlbarem Wohnraum ist unzu­reichend, der Sozialwohnungsbestand schrumpft ständig. Seit 1990 ist der ­Bestand an Sozialwohnungen um rund 60 Prozent gesunken. 2016 gab es noch ungefähr 1,2 Millionen Sozialwohnungen, bis 2020 werden weitere 170 000 aus der Bindung fallen«, so Specht. »Zusätzlich haben Kommunen, Bundesländer und der Bund eigene Wohnungsbestände an private Investoren verkauft. Damit haben sie Reserven bezahlbaren Wohnraums aus der Hand gegeben.«

Das Bündnis Wohnen, dem neben dem Deutschen Mieterbund und der Gewerkschaft IG Bau vier weitere Verbände der Bau- und Immobilienbranche angehören, fordert deshalb, 80 000 Sozialwohnungen im Jahr zu bauen. Tatsächlich wurden 2015 bundesweit gerade einmal 17 296 Sozialwohnungen errichtet. Zudem fehlen nach Angaben der BAG W mindestens 11 Millionen Kleinwohnungen. Der besonders großen Nachfrage (16,8 Millionen Menschen leben in nach Singlehaushalten) stand – wie schon seit Längerem – im Jahr 2016 nur ein Angebot von 5,2 Millionen Ein- bis Zweizimmerwohnungen gegenüber. Dieser Mangel an Kleinwohnungen führt insbesondere in Ballungsräumen zu einem erheblichen Anstieg der Mietpreise. Immer mehr Menschen können diese nicht bezahlen und ­landen deshalb auf der Straße. So soll es alleine in Berlin 5 000 Zwangsräumungen im Jahr geben.

Es ist also weniger der Zuzug von Migrantinnen und Migranten, der immer mehr Menschen wohnungslos werden lässt, als vielmehr die verfehlte Sozial- und Wohnungsbaupolitik der vergangenen Jahre. Trotzdem konkurrieren Flüchtlinge, EU-Binnenmigranten und deutsche Wohnungslose immer stärker auf dem Wohnungsmarkt um günstige Unterkünfte. Sowohl AfD als auch andere rechte Gruppen versuchen, angesichts dieser Konkurrenz rassistische Stimmung zu schüren. Immer wieder rufen Stadt- und Kreisverbände der AfD zu Spendensammlungen eigens für »deutsche Obdachlose« auf. Beinahe ebenso oft werden sie von lokalen Obdachloseninitiativen und Hilfs­organisationen abgewiesen, meist mit der Begründung, dass es diesen gar nicht möglich sei, zwischen Obdachlosen mit deutschem Pass und ohne deutschen Pass zu unterscheiden.

 

»Winterhilfe« für Deutsche

Die neonazistische Kleinstpartei »Der III. Weg« sucht deshalb mit der Gründung der »Deutschen Winterhilfe für unsere Volksangehörigen« den direkten Kontakt zu den Betroffenen ohne den Umweg über andere karitative ­Organisationen. Angelehnt an das nationalsozialistische »Winterhilfswerk« der NSDAP sammeln die Neonazis Kleiderspenden und verteilen sie vor sozi­alen Treffpunkten oder an bekannten Übernachtungsorten. Zum Auftakt der Kampagne in Chemnitz wurde zudem Suppe an Bedürftige verteilt. Selbstverständlich jedoch nicht an alle. Die »Winterhilfe« richtet sich ausschließlich an »unverschuldet in Not Geratene« und nicht an »Menschen, die schlicht nicht arbeiten gehen wollen«. Auch Flüchtlinge, Alkoholiker oder Drogenabhängige werden ausdrücklich von den Spenden ausgenommen.

Dass ausgerechnet die extreme Rechte sich nun als Kämpferin für die Interessen von Obdachlosen in Szene setzt, wirkt zynisch. Es ist gerade die AfD, die in Parlamenten und öffentlichen Verlautbarungen immer wieder Stimmung gegen Obdachlose und sozial Benachteiligte macht. Als in Hamburg ­beschlossen wurde, dass künftig Polizei und Stadt­reinigung Obdachlose um halb sieben Uhr morgens mit der Aufforderung wecken sollen, ihre Schlaf­plätze zu räumen, begrüßte die AfD diese Maßnahme sogleich. »Die Zustände für Grundeigentümer und Einzelhandel sind nicht mehr akzeptabel. Eine Stadt, die sich für die Stärkung des Tourismus einsetzt, kann nicht akzeptieren, dass Besucher alle paar Meter beim Einkaufsbummel behelligt werden«, so der stadtentwicklungspolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Detlef Ehlebracht.

Gerade das neonazistische Milieu, das nun in der Gestalt von »Der III. Weg« versucht, die steigende Obdachlosigkeit für die rassistische Agitation zu nutzen, zeichnet sich seit langem durch extreme Gewalttätigkeit gegen Obdachlose aus. Seit Gewalttaten von Neo­nazis in Deutschland systematisch erfasst werden, bilden Obdachlose eine der größten Opfergruppen neonazistischer Gewalt mit Todesfolge. Seit 1990 haben Neonazis mindestens 28 Obdachlose ermordet.