Der Rekonstruktionismus in Dresden und Potsdam ist populistisch

Ästhetischer Populismus

Seite 3 – Nachgeahmte Substantialität
Essay Von

Die Evokation des Historischen hat seit Jahren Hochkonjunktur, gerade weil der Begriff unspezifisch ist und ursprüngliche Authentizität suggeriert. Er blüht dort, wo die bloße Menge der Geschichte über ihre spezifische Qualität triumphiert. So bezieht das Historische seine unvermittelte Autorität kraft des verbürgten Alters. Es verspricht harmonische, gewachsene Einheit, wo sie so nie existierte. Im Dresdner Disneyland und dessen preußischer Kopie entsteht »das unheilvolle Wunschbild einer heilen Welt« (Adorno), die im Prestigebegriff des Barock zu sich kommt. Der Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen nannte diese stereotypen Reduktionsbegriffe, die Geschichte verdinglichen und Bedürfnisstrukturen ­erzeugen, einmal »Plastikworte«. Der Verheißungscharakter des bloß quantitativ Historischen ist nachgerade eine Sehnsuchtsvorstellung der modernen Konsumgesellschaft und als solcher dem Rekonstruktionismus immanent.

In Dresden und Potsdam, wo die »historische Altstadt« und die »historische Mitte« mit besonderem Nachdruck besetzt werden, ist das Historische sogar ein zweifacher ­Mythos. Keine dieser Städte verdankte ihre markante Vorkriegsstruktur ­einem jahrhundertelangen Entwicklungsprozess, sondern der brutalen Barockisierungswelle zur Zeit des aufgeklärten Absolutismus im 18. und 19. Jahrhundert. Davor wurde Dresden im Siebenjährigen Krieg zu einem Drittel zerstört. Auch die Nationalsozialisten konnten der dunklen Enge in den baufälligen »Elendswohnungen« der Innenstadt wenig ­abgewinnen und rissen in den dreißiger Jahren große Teile der Bestandsbauten ab. So ist kaum ein Gebäude der »barocken« Dresdner Stadtsilhouette in seiner heutigen Form älter als 150 Jahre, viele waren zum Zeitpunkt ihrer Zerstörung infolge der Bombardierungen jünger als die Hinterlassenschaften der DDR, um die heute gestritten wird. Auch der Wiederaufbau des Potsdamer Zentrums bezieht sich selektiv auf eine kurze Episode, deren imaginierte Stil­einheit als ultima ratio innerstädtischer Gestaltung verklärt wird.

 

Das populistische Ressentiment gegen die moderne Kunst spiegelt den Rekonstruktionismus, der in diesem Milieu auf breite Begeisterung stößt und nicht ohne Grund hochgradig suggestiv und mit populistischen Argumenten begründet wird. Ihm ­eignet das Urteilen nach rein subjektiven Lust- und Unlustempfindungen, das Einsicht in Zusammenhänge, Formen und Gestaltungskonzepte suspendiert.

Die Renaissance des Barock markiert zugleich einen architektonischen Formenwandel in der Berliner ­Repu­blik und ist mit einer auffälligen, organischen Semantik der Mitte verbunden. Das in der Hauptstadtdebatte produzierte Bild von Berlin als historischem Zentrum und Herz der Republik wird in Potsdam unter Rückgriff auf den gleichen Bedeutungsraum von Gleichgewicht, Heilung und geschichtlicher Normalität aktualisiert. Die »Zurückgewinnung der Mitte« im städtischen Raum ­gehört zur Kollektivsymbolik einer selbsternannten politischen Mitte, die sich an repräsentativer Stelle immer noch ihres Triumphs über ein zusammengebrochenes Gesellschaftssystem vergewissern will, das ihr als Störfall geschichtlicher Normalität gilt und deshalb auch aus der Erinnerung verschwinden muss. Höhepunkt dieses Umgangs mit der DDR-Vergangenheit, die durch eine neobürgerliche Ästhetik verdrängt wird, markiert der revisionistische Abriss des Palastes der Republik. Auch der jüngste Vorstoß des sachsen-anhaltinischen AfD-Landeschefs André Poggenburg, einen Schlussstrich unter die Stasi-Vergangenheit zu ziehen, fügt sich konsequent in eine Geschichtspolitik, die nicht auf Erfahrung und kritische Auseinandersetzung, sondern affektive Identitätsstiftung zielt. Damit das gelingen kann, muss eine neue Kontinuität rekonstruiert werden, die zum un­gewollt Bestehenden in maximalem Kontrast steht und gleichsam in sich harmonisch aufeinander bezogen ist. Kein Erinnerungsmarker darf die Sichtbeziehungen stören. Dieser konsequente Historizismus ist der ­adäquate Ausdrucksstil einer konservativen Revolution, die geschichtliche Brüche ausschließlich als Ursprungsverlust wahrnimmt und in gleichsam subjektiver Willkür eine neue Tradition erbauen will. Deshalb ist die nostalgische Orientierung, die Uwe Tellkamp im Falle Dresdens so treffend als »süße Krankheit Gestern« beschrieben hat, in den ostdeutschen Residenzstädten zu ornamentaler Maßlosigkeit gesteigert und mit den Rekonstruktionen von Bürgerhäusern im Frankfurter Dom-Römer-Quartier, dem Braunschweiger Hybridschloss oder dem Wiederaufbau der Warschauer Altstadt in den fünfziger Jahren nur bedingt vergleichbar.

Das Kollektivsymbol der wiederzugewinnenden Mitte bildet so das diskursive Gegenstück zu jenem »Verlust der Mitte«, den Hans Sedlmayr 1948 beklagte. Darin kritisierte Sedlmayr das in seinen Augen ­Totalitäre und Exzentrische der Moderne, ihre »Verleugnung des Tek­tonischen« und ihr Streben nach Dissonanz und Chaos in den Ausdrucksformen. Die Kunst strebe weg von der Mitte und ersetze Gott durch die Idee des autonomen Menschen, der sich das Material experimentierend gefügig mache. Die kulturkonservative Abrechnung mit der modernen Architektur rief bei Kritikern Assoziationen an den Vorwurf der »entarteten Kunst« hervor.

Alexander Gauland würdigte ­Seldmayr zum 60. Jahrestag seiner Schrift: »Die Kunst, so Sedlmayr, ist Ausdruck der Zeit nur nebenbei und wesentlich außerzeitlich: Epiphanie des Zeitfreien, des Ewigen in der Brechung der Zeit. Die Leugnung dieses Ewigen ist essentiell auch Leugnung der Kunst.« Nicht ästhetische Er­fahrung also, sondern Ehrfurcht vor der bloßen Mimesis des Ewigen prägt das konservative Kunstverständnis. Die gleichen Motive der Rekonstruktionsbefürworter finden sich bereits bei Sedlmayr verdichtet, der neue Werkstoffe und Formen schlechterdings ablehnte, weil sie »in einer Art Wahlverwandtschaft zu den neuen Ideen« stehen: »Die Tendenz zur Loslösung von der Erdbasis. Die Möglichkeit, unten und oben zu vertauschen, womit die Vorliebe für das glatte Dach zusammenhängt. Die Neigung zu homogenen glatten Flächen ohne Durchbrechungen, ohne plastische Elemente, ohne Profil. Die Verwandlung der Wände in abstrakte Grenzflächen; daraus folgt später das Ideal einer Raumhaut aus purem Glas. Eine neue Art des Zusammenfügens der einzelnen Grundformen, die man unverbunden zusammenstellt oder aufeinanderlegt wie Schachteln. (…) Das Fehlen jedes organischen Übergangs zwischen Architektur und Landschaft; wie vom Himmel heruntergefallen erscheinen diese ›reinen‹ Architekturen in der ›reinen‹ Natur, oft tragen sie auf ­Terrassen unvermittelt Gewächse.« Die moderne Architektur markiert wie die abstrakte Kunst einen Bruch mit mimetischer Erfahrung und den Beginn einer Deontologisierung und Entzauberung der Welt, die die Gralshüter holistischer Weltanschauungen aufschreckte. Eine reflexive Mimesis ist nicht möglich, weshalb Jürgen Habermas den bemühten Versuch als »nachgeahmte Substantialität« bezeichnet hat, die zum politischen Stammtisch neige.

 

Entfesselte Harmoniesucht

Ein handfester Kunstskandal in Dresden zog zu Beginn des Jahres 2017 ­erstaunlich wenig bundesweite Aufmerksamkeit auf sich, obwohl er die konservative Grundstimmung der Stadt wesentlich besser verdeutlicht als die notorisch fremdenfeindlichen Proteste gegen die Busmonumente des syrisch-deutschen Künstlers Manaf Halbouni wenige Wochen zuvor. Seit April wird auf dem Neumarkt unweit der Frauenkirche das »Denkmal für den permanenten Neuanfang« einer Hamburger Künstlergruppe gezeigt, das die Komplexität der historischen Bezüge der Stadt aufgreift. Das Denkmal besteht aus mehreren auf einem Edelstahl­gerüst montierten Elementen, die als symbolische Zitate Epochen der Dresdner Stadtgeschichte darstellen und den lokalen Fassadenfetisch kri­tisieren. »Der Fixateur ist ein Heilgerät für vergangene Beschädigungen. Am Neumarkt findet etwas Ähnliches statt: die architektonische Therapie von Zerstörungen, optisch möglichst bruchlos«, heißt es in der Ankündigung der Stadt. Bei der Eröffnung wurden Künstler und Kuratoren von ­einem wütenden Mob niedergebrüllt, später flogen Töpfe und Pfannen auf das Kunstwerk. Von Seiten der Protestierenden hieß es, das Denkmal sei Schrott, gewollte Provokation und Verschandlung eines historischen Ortes. Ein AfD-Landtagsabgeordneter twitterte »Mülldeponie Dresden«. Weniger Enthemmte kritisierten den optischen Bruch von barocker Kulisse und moderner Kunst und forderten eine Verlegung in andere Stadtteile. Für die Bewerbung Dresdens als europäische Kulturhauptstadt 2025 war das sicher ein gelungener Auftakt.

Das populistische Ressentiment gegen die moderne Kunst spiegelt den Rekonstruktionismus, der in diesem Milieu auf breite Begeisterung stößt und nicht ohne Grund hochgradig suggestiv und mit populistischen Argumenten begründet wird. Ihm ­eignet das Urteilen nach rein subjektiven Lust- und Unlustempfindungen, das Einsicht in Zusammenhänge, Formen und Gestaltungskonzepte suspendiert. Das Rekonstruierte ist bestenfalls ästhetische Dekoration, die gefallen und möglichst keine Reibungspunkte bieten soll. Städtebauliche Erfahrungen sind in den »historisierten Innenstädten« nur negativ möglich, nämlich als Blick in die hinter den Fassaden versteckten Konsumtempel und teilnehmende Beobachtung der ehrfürchtigen Touristenmassen, deren Interesse an den ästhetisierten Orten auf kurzweilige Anekdoten über Könige und Mäzene beschränkt bleibt.

Was der Populismus hingegen am meisten fürchtet, sind gesellschaft­liche Aufklärung und individuelle Erfahrungsfähigkeit, wozu eine Architektur anregen kann, die gewohnte Sichtmuster irritiert. Das schließt die Forderung ein, gesellschaftliche Debatten nicht unter der suggestiven Fragestellung eines ästhetischen Empfindens – im Grunde nur eine codierte Form des »gesunden Menschenverstandes« – zu führen, sondern Gebäude und Raumgestaltung als materialisierte Aussagegefüge einer Gesellschaft wahrzunehmen, in denen sich abstrakte Funktionsmechanismen offenbaren können. Der baugeschichtliche Wert eines Gebäudes ist somit nicht losgelöst von seinem historischen Kontext zu bestimmen und weniger eine Frage norma­tiver Einschätzung als der Bereitschaft, sich auf die Wahrnehmung gestalterischer Details einzulassen. Die Abwehr von sichtbaren stilis­tischen Brüchen und städtebaulichen Kontrasten neigt nicht nur zum ­Geschichtsrevisionismus, sondern macht interessante Details in einem Harmoniebrei unsichtbar.

 

Vom »Schandfleck« zum Denkmal

In diesem Sinne ist der zögerliche Neubewertungsprozess des Denkmalwerts von DDR-Relikten, der mittlerweile auch außerhalb von Fachkreisen offener diskutiert wird, zu begrüßen. Städtisch kuratierte Ausstellungen in Leipzig und Dresden, wie »Plan! Leipzig, Architektur und Städtebau 1945–1976« und »Der Kulturpalast Dresden – Architektur als Auftrag«, wären vor wenigen Jahren wohl noch unter den Verdacht realsozialistischer Propaganda gestellt worden. Noch 2003 wurde in Dresden ernsthaft über einen Abriss des zentralen Kulturpalastes diskutiert. Als Argument diente schon damals, was in aktuellen Diskussionen in identischer Wortwahl wiederkehrt: Der Kulturpalast sei einfallslos, ähnliche Gebäude gäbe es in jeder Stadt, ein Abriss des »Schandflecks« sei zur Rückgewinnung der historischen Altstadt unvermeidlich und diese einmalige Chance dürfe nicht vertan werden. Wenige Jahre später wurde das Gebäude zunächst unter Denkmalschutz gestellt und anschließend für über 100 Millionen Euro saniert. Seit der pompösen Wiedereröffnung feiert die Stadt das einmalige Bauwerk und wagt gar Vergleiche mit der Hamburger Elbphilharmonie.

Auch die Plattenbauviertel werden in den wachsenden ostdeutschen Großstädten nicht mehr länger nur als Hypothek betrachtet, sondern auch als gestaltungsfähiger Sozialraum, der mit überschaubaren Kosten an wandelnde Nutzungsformen ­angepasst werden kann. Sogar über den Denkmalwert einiger Ensembles wird bereits nachgedacht. Diese ­Beispiele zeigen, dass sich die gesellschaftliche Wahrnehmung der zeit­genössischen Architektur immer wieder verändert und die Suggestivkraft ästhetischer Argumente schwindet. Entgegen anderslautenden Einschätzungen funktioniert die äußerst funktionale DDR-Architektur auch heute noch ausgesprochen gut, wenn sie gepflegt und in neue Stadtbaukonzepte integriert wird. In Potsdam will man davon freilich noch nichts wissen und betreibt mit der Umgestaltung des Zentrums eine systematische Verdrängung ungewollter Bevölkerungsgruppen. Dass die Straße der Jugend dort längst wieder Kurfürstenstraße heißt, ist in diesem Sinne konsequent.