Russische Anarchisten und Antifaschisten berichten über Folter

Foltervorwürfe von Antifaschisten

In Russland berichten Antifaschisten, der Inlandsgeheimdienst habe sie unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gefoltert.

Wiktor Filinkow war auf dem Weg zum Flughafen, als er verschwand. Der 23jährige IT-Spezialist mit kasachischem Pass wollte am 23. Januar von St. Petersburg zu seiner Frau nach Kiew in die Ukraine fliegen. Zwei Tage später tauchte er wieder auf, saß allerdings in Untersuchungshaft. Der Antifaschist hatte of­fiziellen Angaben zufolge gestanden, einer terroristischen Vereinigung anzugehören. Am 25. Januar verließ Igor Schischkin, ebenfalls der Petersburger Antifaszene zugehörig, seine Wohnung, um mit seinem Hund spazieren zu gehen. Zurück kam nur der Hund. Auch Schischkin wurde verhaftet. Ilja Kapustin, lediglich über seine Arbeit bekannt mit Filinkow, blieb nach einer Vernehmung als Zeuge auf freiem Fuß.

Allen drei gemeinsam ist, dass sie nach eigenen Angaben stundenlang gefoltert wurden. Kapustin malträtierten maskierte Männer mit Elektroschocks in der Leistengegend. Einen Blick auf Schischkin konnten Journa­listen lediglich im Gerichtsgebäude vor dem Haftprüfungstermin werfen. Der Gefangene wies deutliche Spuren von Misshandlungen auf. Filinkow berichtete Mitgliedern einer für Haftbedingungen in russischen Gefängnissen zuständigen Kommission und seinem Anwalt von Folter, vermutlich durch Angehörige des Inlandsgeheimdiensts FSB. Sie zwangen ihn demnach, eine Reihe von Phrasen auswendig zu lernen, die er in seiner Aussage zu Protokoll geben sollte; darin seien Namen aufgetaucht, die er das erste Mal gehört habe. Filinkows Körper ist nach Angaben der Kommission mit Brandwunden von Elektroschocks und Prellungen übersät, selbst an den Genitalien. Zwar wurde er einem Arzt vorgeführt, ein medizinisches Gutachten liegt bislang jedoch nicht vor.

Bereits im Oktober war es in Pensa zu ersten Festnahmen wegen Terrorismusvorwürfen gekommen. Hier nahmen auch die Ermittlungen in St. Petersburg ihren Anfang, die, soweit bekannt, weitgehend auf den Geständnissen von Verdächtigen fußen, die schwer misshandelt wurden. Die rund 600 Kilometer südöstlich von Moskau gele­gene Stadt zeichnet sich weder durch eine oppositionelle Szene aus noch verfügt sie über eine relevante Infrastruktur kritischer Bürgerrechtsinitia­tiven, die im Notfall Alarm schlagen könnten. Diesen Umstand schien sich die lokale Abteilung des FSB zunutze gemacht zu machen.
Den Anlass für dessen Ermittlungen lieferte möglicherweise der nationalistische Politiker Wjatscheslaw Malzew, der, wie jedes Jahr, für den 5. November eine »Volksrevolution« angekündigt hatte.

Malzew hatte jedoch bereits vor dem Termin Asyl in Frankreich beantragt. In der Lesart der Ermittler sollen mindestens drei als Anarchisten bezeichnete junge Männer – also keine Nationalisten – im Alter zwischen 21 und 27 Jahren unter der Leitung des ebenfalls inhaftierten ausgebildeten Schützentrainers Dmitrij Ptschelinzew von Pensa aus eine Terrororganisation namens »Netzwerk« aufgebaut haben. Ihrer »5.11« (für 5. November) genannten Gruppe hätten sich Zellen in St. Petersburg, zu der Filinkow und Schichkin gehörten, in Moskau und sogar in Belarus angeschlossen. Das »Netzwerk« soll Anschläge während der Präsidentschaftswahl im März und der Fußballweltmeisterschaft im Sommer geplant haben. Ihr Vorhaben richtete sich angeblich gegen diverse Ziele: Angehörige des Sicherheitsapparats, lokale Machthaber und die Führung der Partei Einiges Russland. Hinter all dem stehe die Idee eines ­bewaffneten Aufstands, nimmt der Geheimdienst an.
Die angeführten Verdachtsmomente hätten noch vor wenigen Jahren bestenfalls für Anschuldigungen wegen Extremismus ausgereicht.

Dieses Mal zogen die vermeintlichen Terroristen das Misstrauen des Staatsschutzes auf sich, weil sie den anonymen Webbrowser Tor nutzten und das notwendige Know-how für Anschläge beim Spiel von Airsoft – einem populären und legalen taktischen Gelände­sport – erworben haben sollen. Außerdem stellten die Ermittler in zwei Autos eine Pistole und zwei Granaten sicher, wobei die Autoschlösser zu jenem Zeitpunkt beschädigt waren. Als belastend sah der Haftrichter in Pensa zudem die Aussage an, dass die Beschuldigten im Wald Überlebenstrainings organisiert hätten, darunter auch die Vermittlung von Kenntnissen in Erster Hilfe.

Der Schützentrainer Ptschelinzew sei, so sagte er seiner Frau bei einem Besuch Anfang Dezember, über Wochen in Einzelhaft mit Elektroschocks misshandelt und zeitweise mit dem Kopf nach unten aufgehängt worden; er bange um sein Leben. Den Ermittlern gilt er als Anführer des »Netzwerks«; ihnen zufolge sind mittlerweile mindestens 13 Personen verdächtig, im »Netzwerk« aktiv gewesen zu sein. Human Rights Watch fürchtet, dass weitere Festnahmen im Rahmen der Ermittlungen bevorstehen. Die Menschenrechtsorganisation fordert, die russischen Behörden sollten sofort das ungesetzliche Verschwindenlassen beenden, die Foltervorwürfe untersuchen und dafür sorgen, dass künftige Polizeimaßnahmen menschenrecht­lichen Standards genügen.

Vor jeder Präsidentschaftswahl vermeldet der Sicherheitsapparat die Aufdeckung terroristischer Gruppierungen, das gehört sozusagen zum Repertoire der staatlichen Inszenierung. Das Jahr 2018 bildet keine Ausnahme.