Schwere Auseinandersetzungen zwischen Migrantengruppen in Calais

Schüsse in Calais

Seite 2 – Hoffnung auf eine Zukunft in England

 

In den Augen mancher Migranten wird die Hoffnung auf eine Zukunft in England wohl auch zur fixen Idee jenseits dort real bestehender Chancen. Nicht ­zuletzt wollen viele einer drohenden Überstellung aus Frankreich in eines der drei Mittelmeerländer ­Spanien, Italien und Griechenland entgehen, das sie bei der Einreise in die EU ­zuerst betreten haben. Allerdings ist auch das Vereinigte Königreich Mitgliedsstaat des Dublin-III-Abkommens von 2013; diesem zufolge ist grundsätzlich derjenige Mitgliedstaat, in dem eine geflüchtete Person erstmals EU-Territorium betritt, für das Asylverfahren zuständig – eine Regelung, die die Zahl der Asylverfahren in den Kernländern ohne Außengrenze reduziert.

 

Anonym berichtete ein Bereitschaftspolizist Mitte Januar in der Zeitschrift L’Ebdo, er sei wiederholt dazu eingesetzt worden, Schlafsäcke mit CS-Gas zu besprühen oder anders unbrauchbar zu machen.

 

Anlässlich der Räumung des großen, als »Jungle« bezeichneten Flüchtlings­camps in Calais im Oktober 2016, nach der etwa 10 000 Menschen über das übrige Frankreich verteilt wurden, hatte die französische Regierung den Betroffenen versprochen, sie könnten zwischen einem Asylantrag in Frankreich und einer freiwilligen Ausreise wählen. Von der Dublin-Verordnung betroffene Migranten wurden jedoch schnell ins Rückführungssystem, vor allem zwischen Frankreich und Italien, überstellt. Dies betraf zunächst vor allem sudanesische Staatsangehörige.

Derzeit stockt die sogenannte Rücküberstellung aus Frankreich nach Ita­lien jedoch. 38 Migranten, vor allem Sudanesen sowie ein Eritreer, stellten am 11. Januar im südwestfranzösischen Pau eine Strafanzeige gegen unbekannt wegen von Folter- und Misshandlung; die Vorwürfe richten sich gegen italienische Polizeibedienstete und -behörden. Ein Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet. Am 26. Januar verbot daraufhin ein Verwaltungsgericht in derselben Stadt die Rücküberstellung eines Sudanesen nach Italien gemäß der Dublin-Verordnung aufgrund einer drohenden Grundrechtsverletzung des an der Sammelklage Beteiligten.

Einige Monate nach der Evakuierung aus Calais kehrten einige Flüchtlinge dorthin zurück. Derzeit ­leben dort nach Angaben der Präfektur, der Vertretung des Zentralstaats auf Bezirksebene, zwischen 550 und 600, NGOs zufolge rund 800 Geflüchtete; sie alle wollen nach Großbritannien gelangen. Nachdem das fast zwei Jahre bestehende Großcamp zerstört wurde, übernachten sie nun in kleinen Gruppen im Freien, im Unterholz umliegender Wälder.

Am 16. Januar kam Staatspräsident Emmanuel Macron nach Calais, um sowohl eine NGO, die Geflüchtete unterstützt, als auch dort stationierte Polizisten zu besuchen. Zunächst lobte er die Beamten, kündigte jedoch auch an, im Falle illegaler Übergriffe auf Migranten werde es keine Toleranz geben.

Von solchen Übergriffe wurde in jüngster Vergangenheit immer wieder berichtet: Am Tag vor Macrons Besuch stellten mehrere Hilfsorganisationen, unter ihnen Secours catholique und L’Auberge des migrants, Strafanzeige wegen der systematischen Zerstörung lebensnotwendiger Gegenstände wie Schlafsäcken und Decken. Im Dezember hatten die Vereinigungen 700 Schlaf­säcke verteilt, auf die ihr jeweiliges Symbol aufgenäht war, und die Migranten Leihverträge unterzeichnen lassen. Dadurch können sie sich nun auf ihr Besitzrecht berufen und als Kläger auftreten. Die Polizei lässt solche Gegenstände oft beschlagnahmen oder zerstören. Anonym berichtete ein Bereitschaftspolizist Mitte Januar in der neu gegründeten Zeitschrift L’Ebdo, er sei wiederholt dazu eingesetzt worden, Schlafsäcke mit CS-Gas zu besprühen oder anders unbrauchbar zu machen. Der Fehler liege nicht bei der Polizei, sondern »im System«, fügte er hinzu. In 15 Jahren vor Ort habe er nicht einmal Gelegenheit gehabt, mit einem Geflüchteten zu sprechen.

Einigen NGOs warf Macron vor, sie handelten »unverantwortlich« und »begünstigten dadurch die illegale Migration«. Bislang hatten französische Regierungen humanitäre Hilfsorganisationen nicht derart offen kritisiert, sondern sie zumeist ignoriert und de facto gewähren lassen. 48 Stunden nach seinem Auftritt in Calais hielt Macron sich in London auf und unterzeichnete dort mit der britischen ­Premierministerin Theresa May ein Abkommen, das die »Vereinbarungen von Le Touquet« von 2004 fortschreibt. Demnach werden die auf die südliche Seite des Ärmelkanals vorgelagerten Grenzkontrollen für das Vereinigte Königreich beibehalten, die britische ­Regierung zahlt jedoch 50,5 Millionen Euro zusätzlich dafür.